D. Krämer u.a. (Hrsg.): Woche für Woche neue Preisaufschläge

Cover
Titel
«Woche für Woche neue Preisaufschläge». Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges


Herausgeber
Krämer, Daniel; Pfister, Christian; Segesser, Daniel Marc
Reihe
Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 6
Erschienen
Basel 2016: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
88.- CHF
URL
von
Christian Lüthi, Direktion, Universitätsbibliothek Bern

Lange Zeit war der Erste Weltkrieg für die Schweizer Geschichtsforschung kaum ein Thema. Dies hat sich in den letzten zehn Jahren geändert. Das Gedenken an die Ereignisse vor hundert Jahren führte zu zahlreichen Publikationen. Roman Rossfeld und Tobias Straumann haben bereits die Wirtschaftsgeschichte dieser Zeit neu beleuchtet. Ein Forschungsteam rund um den emeritierten Berner Geschichtsprofessor Christian Pfister hat nun die Versorgungskrise während des Krieges unter verschiedenen Geschichtspunkten aufgearbeitet.

Die ersten beiden Kriegsjahre 1914 und 1915 waren für die Versorgung der Schweiz mit Lebensmitteln und Rohstoffen noch relativ unproblematisch. Lebens- und Futtermittel konnten weiterhin aus dem Ausland importiert werden. Ab 1916 setzte jedoch in vielen Bereichen eine Krise ein. Dies ist erstens auf den Wetterverlauf 2016/17 zurückzuführen. Starke Niederschläge und tiefe Temperaturen im Frühling und Sommer liessen die Ernteerträge in Europa und Amerika einbrechen. Die Kartoffelernte ging 2016 im Kanton Bern um 39 Prozent zurück. Die Lebensmittel für die Menschen wurden knapp, zudem fehlte Futter für die Kühe, was auch den Milchertrag dramatisch zurückgehen liess. Zweitens machten die Krieg führenden Staaten ab 1917 die Grenzen für den Handel dicht. Die Schweiz erlebte damit eine Hungerkrise, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufgetreten war.

Die Schweiz hatte seit der Gründung des Bundesstaates auf einen schlanken Staat und Freihandel gesetzt. Die Privatwirtschaft und der Markt regelten die Versorgung von Bevölkerung und Wirtschaft weitgehend. Im Krieg wurden Staatseingriffe nötig, um Nahrungsmittel im Ausland gezielt zu beschaffen und diese im Inland gerecht zu verteilen. Der Bundesstaat war von den neuen Rahmenbedingungen völlig überfordert. Ab Oktober 1917 rationierte der Bund Brot und Mehl, später weitere Nahrungsmittel. Angesichts der ökonomischen Krise und der steigenden Preise verarmten grosse Teile der Bevölkerung, die vorwiegend in den Städten lebte. Die Reallöhne sanken um 25 bis 30 Prozent und ebenso die der Bevölkerung zur Verfügung stehenden Kalorien der Lebensmittel. Die sozialen Probleme führten zu politischen Spannungen, die im Landesstreik vom November 1918 eskalierten.

Im ersten Teil des Bandes beleuchtet Daniel Marc Segesser die Ressourcenprobleme des Krieges im internationalen Kontext, Christian Pfister gibt einen Überblick über die Klima- und Nahrungsmittelkrise, Peter Moser zeigt den Zusammenhang zwischen der Ernährungsfrage und dem Landesstreik.

Teil 2 trägt den Titel Energiekrise. Christian Pfister schildert mit dem plakativen Titel Frieren, kalt essen und zu Fuss gehen, wie sich der Rückgang des Imports von Kohle auf den Alltag auswirkte. Unter den Einfuhrschwierigkeiten litt auch die Landwirtschaft, da zu wenig Stickstoffdünger ins Land gelangte, was Auswirkungen auf die Ernteerträge hatte (Beitrag von Sandro Fehr). Anna Amacher Hoppler geht auf die Elektrifizierung der Eisenbahnen ein, die sich angesichts des Kohlemangels beschleunigte.

Teil 3 mit dem Titel Versorgungskrise umfasst vier weitere Beiträge: Maurice Cottier zeigt auf, wie der Erste Weltkrieg die Behörden vom Wirtschaftsliberalismus zum Staatsinterventionismus zwang. Christian Wipf schildert die Anstrengungen des Bundes zur Vermehrung der inländischen Kartoffel- und Getreideproduktion. Ergänzend dazu untersucht Ismael Albertin die Massnahmen der Zürcher Stadtexekutive zur Verbesserung der Lebensmittelversorgung auf lokaler Ebene. Daniel Burkhard geht schliesslich auf die Diskussionen um die Milchpreissteuerung durch die Behörden ein.

Teil 4 dreht sich um die Gesundheitskrise. Christian Sonderegger und Andreas Tscherrig präsentieren den Verlauf, die Ursachen und Zusammenhänge der Grippepandemie 1918/19 in der Schweiz, bei der überdurchschnittlich viele junge Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren starben. In der Mortalitätsstatistik der Schweiz ragt das Jahr 1918 mit der höchsten Sterblichkeit der letzten 150 Jahre heraus. Kaspar Staub zeigt anhand von statistischen Daten zu menschlichen Körpern, wie die Versorgungskrise sich negativ auf das Wachstum von Kindern und Jugendlichen auswirkte.

Der Band umfasst eine umfangreiche Bibliografie sowie ein Register und schliesst mit einer Synthese von Daniel Krämer. Dieser weist auf die Verletzlichkeit einer arbeitsteiligen und international vernetzten Wirtschaft und Gesellschaft hin, was für die Schweiz Anfang des 20. Jahrhunderts zutraf. Neben der Klimakrise bewirkte der Krieg Engpässe im Transportwesen, zog Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft und Industrie ab und veränderte die Nachfrage in den verschiedenen Wirtschaftszweigen.

Die Bewältigungsstrategien gegen die verschiedenen Dimensionen der Krise mussten erst gefunden und erprobt werden. Die Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden waren dabei enorm gefordert. Bis 1916 überliess der Bund die Krisenintervention weitgehend den Kantonen. Danach stieg die Zahl der Verordnungen auf allen Stufen zu einer Flut von Regelungen an. Die Behörden rationierten Lebensmittel und Brennstoffe, förderten den Import und die Produktion von fehlenden Ressourcen, versuchten die Preise zu stabilisieren und trieben den Ersatz fehlender Materialien voran, am erfolgreichsten bei der Elektrifizierung der Bahnen. In den Städten richteten die Behörden Suppenküchen und Notwohnungen ein.

Der Band zeigt in verschiedenen Facetten eindrücklich, was ein Krieg immer auch ist: eine Wirtschaftskrise, die in diesem Fall durch eine klimatisch bedingte Versorgungskrise verschärft wurde. Dies hatte auch für die Schweiz, die nicht direkt am Kriegsgeschehen beteiligt war, dramatische Auswirkungen. Die Erfahrungen mit dem Krieg und den wirtschaftlichen Problemen führten bei Bund und Kantonen zur Einsicht, dass eine aktive Agrar- und Ernährungspolitik eine staatliche Aufgabe ist. Eine zweite langfristige Folge dieser Jahre war die beschleunigte Adaption der Elektrizität als einheimische Energiequelle.

Zitierweise:
Christian Lüthi: Rezension zu: Krämer, Daniel; Pfister, Christian; Segesser, Daniel Marc (Hrsg.): «Woche für Woche neue Preisaufschläge». Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges. Basel: Schwabe 2016. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 2, 2017, S. 89-91.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 2, 2017, S. 89-91.

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