B. Althammer u.a. (Hrsg.): Rescuing the Vulnerable

Cover
Titel
Rescuing the Vulnerable. Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe


Herausgeber
Beate, Althammer; Lutz, Raphael; Tamara, Stazic-Wendt
Erschienen
New York 2016:
Anzahl Seiten
424 S.
von
Urs Germann, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Die Geschichte der sozialen Sicherheit gehört längst zum Grundkanon der Historiografie. Der Fokus der Forschung lag allerdings lange einseitig auf der Entstehung und dem Ausbau der modernen Sozialversicherungen. Stränge der sozialen Fürsorge, die – wie die Versorgung von elternlosen Kindern oder Menschen mit Behinderung – in die Vormoderne zurückreichen, spielten demgegenüber eine ebenrolle oder galten als Residuen überkommener Wohlfahrtsstrukturen. In der Schweiz hat zum Beispiel erst die jüngste Debatte über fürsorgerische Zwangsmassnahmen die nachhaltige Bedeutung solcher Fürsorgeregimes in Erinnerung gerufen. Die Fürsorge für Kinder sowie wohnsitz- oder arbeitslose Erwachsene steht ebenfalls im Zentrum des von Beate Althammer, Lutz Raphael und Tamara Stazic-Wendt herausgegebenen Sammelbands.

In ihrer Einleitung stellen die Herausgeberinnen die Bedeutung sozialer Bindungen für die Prävention, Interpretation und Bewältigung von Armut ins Zentrum. Sie gehen dabei von älteren und neueren Gegenwartsdiagnosen aus, die in der Auflösung familiär-sozialer Bindungen als Folge der sozioökonomischen Modernisierung eine wesentliche Ursache für eine gesteigerte Armuts- und Marginalisierungsvulnerabilität bestimmter Bevölkerungsgruppen sehen. An diese Überlegungen anknüpfend, entwickelt Serge Paugam im ersten Kapitel eine historische Typologie sozialer Bindungen und ihrer Wechselwirkungen mit unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen, die allerdings in der Folge nur von einzelnen Autorinnen und Autoren aufgegriffen wird. Ebenfalls verweisen die Herausgeberinnen auf die historische Wirkungsmächtigkeit des Konzepts der Subsidiarität, das die salutogenetische Funktion zivilgesellschaftlicher Beziehungen unterstreicht und sowohl von konservativ-religiösen als auch von liberalen Kreisen immer wieder als Gegenkonzept zur zentralstaatlichen Daseinsfürsorge in Anschlag gebracht wurde. Für die Forschung ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Blick auch auf nichtstaatliche Akteure und auf Integrations- und Marginalisierungsprozesse, die in der Mitte der Gesellschaft stattfanden, zu richten.

Der erste Teil des Bands umfasst Beiträge, die sich mit der Konstruktion und dem Umgang mit «gefährdeten Kindheiten» beschäftigen. Katharina Brandes weist am Beispiel des Hamburger Waisenhauskollegiums nach, dass um 1900 längst nicht alle «Waisenkinder» ohne elterliche Bezugspersonen dastanden oder – nach den damaligen Kriterien – als «verwahrlost» galten. Vielmehr hätten staatliche und parastaatliche Platzierungsangebote in den Überlebensstrategien prekarisierter Familien eine wichtige Rolle gespielt. Auf die Persistenz des Bildes des hungernden und hilfsbedürftigen (Waisen-)Kindes in der karitativen Öffentlichkeit verweist auch der Beitrag von Frederike Kind-Kovács, der die amerikanischbritische Nothilfe in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg untersucht. Die Diskrepanz, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zwischen der Anerkennung der Hilfsbedürftigkeit von Kindern armer Familien und den tatsächlichen Unterstützungsangeboten von Staat und Gesellschaft auftat, lassen dagegen die Beiträge von Nicoleta Roman und Ernst Guggisberg erahnen, welche spezifische Strukturen der Fremdplatzierung von Kindern in Rumänien und in der Schweiz analysieren.

Die Beiträge im zweiten Teil beschäftigen sich mit der Problematisierung unterschiedlicher Formen der Nichtsesshaftigkeit. Andrew Cusack zeigt am Beispiel einer Novelle von Jeremias Gotthelf, wie sich noch um 1840 die traditionelle Wanderschaft der Handwerkergesellen zum Sinnbild einer quasi-mechanischen Solidarität und sittlich-moralischen Selbstfindung stilisieren liess. In ihrem vergleichend angelegten Beitrag untersucht Beate Althammer, wie um 1870 in Deutschland, England und Frankreich das frühneuzeitliche Phänomen der «Landstreicherei» wieder an Aktualität gewann und neue sozial- und kriminalpolitische Lösungsansätze wie die karitative Wandererfürsorge oder erweiterte Formen der Präventivhaft plausibel machte. Interessant sind dabei nicht nur die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den untersuchten Staaten, sondern auch der Umstand, dass der Beitrag sehr gut aufzeigt, dass die Neuausrichtung der Sozialpolitik in der Moderne traditionelle Ansätze der Armuts- und Devianzbewältigung keineswegs verdrängte. Dass offen ausgrenzende und kriminalisierende Strategien der Sozialpolitik im Lauf des 20. Jahrhunderts erst nach und nach zurückgedrängt wurden, zeigt der Beitrag von Tehila Sasson zur Wohnungsnot in Grossbritannien. Erst eine breit abgestützte Medienkampagne trug in den 1960er Jahren dazu bei, dass zumindest obdachlose Familien vom Stigma der «gefährlichen Armen» befreit und adäquat unterstützt wurden.

Arbeitslose Menschen, mit denen sich die Beiträge im dritten Teil des Bandes beschäftigen, gehören zu den jüngeren Zielgruppen der sozialen Fürsorge. Im Zentrum des Konstrukts «Arbeitslosigkeit» stand seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Marktversagen, wogegen ältere Konzepte der «Liederlichkeit» beim individuellen Versagen der betroffenen Personen ansetzten. Der Beitrag von Elisabeth A. Scott über Arbeitskolonien in England, der Artikel von Tamara Stazic-Wendt über die Fürsorge für erwerbslose Personen in ländlichen Teilen Deutschlands sowie der Beitrag von Wiebke Wiede über die sozialwissenschaftliche Erforschung der Arbeitslosigkeit zeigen allerdings deutlich, dass die Grenzziehung zwischen traditionellen und progressiven Wohlfahrtsregimen keineswegs immer eindeutig war und sozial-moralische Beurteilungsmuster (vermeintlich) moderne Fürsorgepraktiken weiterhin prägten – wenn auch subtiler und in gewandelter Form. Irina Vana führt etwa am Beispiel Österreichs vor Augen, wie Arbeitsvermittlungsstellen in der Zwischenkriegszeit die Unterscheidung zwischen unterstützungswürdigen «Arbeitslosen» und anderen, nicht-anerkannten Anspruchsgruppen vollzogen und so indirekt an der Normalisierung der Berufsarbeit beteiligt waren.

Die Beiträge von Hubertus Jahn, Andreas Gestrich und Daniela Henisch sowie von Dorothea Lürbke im vierten Teil des Bandes untersuchen an Beispielen aus dem zaristischen Russland, aus England und Deutschland, wie von Armut betroffene oder bedrohte Menschen staatliche Stellen um Unterstützung baten. Sie geben damit armutsbetroffenen Personen eine (vermittelte) Stimme, verdeutlichen aber auch die Bandbreite der Anpassungs- und Unterwerfungsstrategien. Das Genre der Bittschriften weist dabei erstaunliche Kontinuitäten auf, etwa was Appelle an das Mitleid oder obrigkeitliche Fürsorgepflichten anbelangt. Noch in der Bundesrepublik argumentierten Gesuchstellerinnen und -steller regelmässig damit, dass sie sich ohne eigenes Verschulden in Not befänden, um legitime Ansprüche auf Unterstützung zu begründen.

Abgerundet wird der Band durch eine luzide Synthese von Lutz Raphael, die nicht nur die Hauptergebnisse der Beiträge Revue passieren lässt, sondern auch weiterführende Fragestellungen formuliert. Wichtig ist sicher der Befund, dass sozialmoralische Würdigkeitskategorien bis weit ins 20. Jahrhundert – wenn auch unter neuen Vorzeichen – die Systeme der sozialen Sicherheit mitprägten. Eine Folge davon war und ist, dass moderne Wohlfahrtsregime nach wie vor stark unterscheiden, wenn es um die Anerkennung verschiedener Notlagen und individueller Vulnerabilitäten geht. Fruchtbar für die weiterführende Forschung ist der Hinweis, dass die 1970er Jahre einen wichtigen Wendepunkt darstellten, was die Anerkennung der Rechte und Unterstützungsansprüche armutsbetroffener Personen und anderer Randgruppen anbelangt. Zumindest aus Sicht der aktuellen Debatte über fürsorgerische Zwangsmassnahmen in der Schweiz erscheint diese Vermutung plausibel, auch wenn eine gewichtete Analyse der verschiedenen gesellschaftlichen, rechtlichen und ökonomischen Faktoren im Moment ein Forschungsdesiderat bleibt.

Der Sammelband liest sich insgesamt mit grossem Gewinn. Auch wenn die im Titel und in der Einleitung angekündigte Fokussierung auf die Vulnerabilität von social ties gesamthaft etwas zu kurz kommt, ist es ein grosses Verdienst der Herausgeberinnen, des Herausgebers sowie der Autorinnen und Autoren, dass sie gegenüber einer rein sozialversicherungsgetriebenen (Erfolgs-)Geschichte der sozialen Sicherheit den Blick für die Disparitäten, Kontinuitäten und Verwerfungen innerhalb der europäischen Wohlfahrtsregime schärfen. Wie verschiedene Beiträge zeigen, gehört dazu auch die Berücksichtigung der Perspektive der Personen, die nicht nur von Not und Ausgrenzung, sondern auch von der staatlichen Wohlfahrt betroffen waren.

Zitierweise:
Urs Germann: Rezension zu: Beate Althammer, Lutz Raphael, Tamara Stazic-Wendt (Hg.), Rescuing the Vulnerable. Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe, New York/Oxford: Berghahn Books, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 516-519.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 516-519.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit