S. Aerschmann: Der ideale Richter

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Titel
Der ideale Richter. Schweizer Bundesrichter in der medialen Öffentlichkeit (1875–2010)


Autor(en)
Aerschmann, Stephan
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
249 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jonathan Pärli, Forschungsstelle Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (FSW), Universität Zürich

Stephan Aerschmanns Studie zum Bild des «idealen Richters» erschien zur rechten Zeit: Die Rolle von Justiz und Gerichten, und damit von Richterinnen und Richtern, ist in der Schweiz in den letzten Jahren verstärkt in den Brennpunkt der politischen Auseinandersetzung und der medialen Berichterstattung gerückt. Zur Geschichte der Justiz im Schweizerischen Bundesstaat hingegen ist geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftlich bis vor kurzem noch kaum geforscht worden.

Ausgehend von diesem Forschungsdesiderat fragt Aerschmann nach den richterlichen Idealbildern sowie den darin aufscheinenden Vorstellungen über die Aufgabe und Rolle der Justiz. Untersucht wird dies in der Schweizer Medienöffentlichkeit im langen Untersuchungszeitraum von 1875 bis 2010. In der Einleitung legt der Autor überzeugend dar, weshalb Würdigungstexte über Richter am Lausanner Bundesgericht, die anlässlich von Todesfällen, Rücktritten, Amtsjubiläen oder dergleichen verfasst wurden, eine ausgezeichnete Quellengattung darstellen, um das richterliche Idealbild sowie die mit diesem verknüpften populärwissenschaftlichen Vorstellungen zur Funktionsweise der Justiz zu studieren. Dem Werk liegt ein Textkorpus von mehr als 1000 Zeitungsartikeln und einigen Büchern zu insgesamt 150 Bundesrichtern und zwei Bundesrichterinnen zugrunde, den der Autor mit einem diskursanalytischen Ansatz untersucht. Schwerpunktmässig fragt Aerschmann entsprechend nach dem Gleichförmigen, Stereotypen und Seriellen in der Darstellung der Fähigkeiten und Eigenschaften eines guten Richters.

Die Studie gliedert sich in drei Teile. Während es im ersten um die Darstellung des richterlichen Verhältnisses zur Politik geht, widmet sich der zweite Teil der Frage, ob Richtern eher ein «theoretisches» (akademisch-universitäres) oder «praktisches» (anwaltschaftlich-berufspraktisches) Profil zugeschrieben wurde. Der dritte und längste Teil geht auf die Darstellung der richterlichen Praxis ein. In drei kürzeren Exkursen vergleicht Aerschmann hier das in den Würdigungstexten herausgearbeitete Idealbild mit populären Vorstellungen über Richter und Justiz. Letzteres entnimmt er publizierten Leserbriefen zu Gerichtsurteilen mit hoher öffentlicher Resonanz («Fall Elisabeth Kopp» 1990, Entscheide zu Einbürgerungen an der Urne, «Spuckaffäre Martin Schubarth» 2003). Wie der Autor herausarbeitet, zeigten sich in den Leserbriefen dieselben Parameter und Wertmassstäbe wie in den Würdigungstexten, was darauf schliessen lässt, dass diese den Rahmen des Sag- und Denkbaren mehr oder weniger vollständig aufspannten. Ferner geht Aerschmann davon aus, dass sich die Würdigungstexte auf das richterliche Selbstverständnis auswirkten, wobei die Studie dies eher behauptet denn empirisch schlüssig nachweisen kann.

Über die ganze Studie hinweg zeigt sich, wie zentral die Rhetorik von Persönlichkeitsmerkmalen in den Beschreibungen der Bundesrichter war. Aerschmann argumentiert beispielsweise, die Zuschreibung bestimmter Charaktereigenschaften wie «massvoll» oder «konziliant» hätten den Verfassern der Würdigungstexte erlaubt, das Verhältnis von Justiz und Politik als antithetisch erscheinen zu lassen, obwohl zwischen den beiden Feldern bis in die 1960er Jahre eine hohe personelle Durchlässigkeit geherrscht habe. Kritische Bemerkungen zur personellen Verflechtung der politischen und justiziellen Elite habe es durchaus gegeben, die dominante Deutung wertete diese Durchlässigkeit und die damit verbundenen Übertritte ehemaliger Politiker in das Richteramt kraft deren charakterlicher Ausstattung allerdings als unproblematisch.

Wie der Autor zeigt, verfügte ein Bundesrichter noch um 1900 typischerweise über ein beträchtliches politisches Kapital und eher bescheidene juristische Kenntnisse. Im Laufe der Zeit fand faktisch zwar ein Wandel hin zur juristischen Fachperson mit akademischen Qualifikationen statt, dieser schlug sich aber gerade nicht in den Idealbildern nieder, wie sie in den Würdigungstexten gezeichnet wurden: Praktisches Wissen, «gute Menschen- und Volkskenntnisse, genaue Kenntnisse der Realitäten des Lebens sowie praktischer Sinn» sind in den Beschreibungen deutlich vorrangig gegenüber Rechtskenntnissen oder juristischem Denkvermögen geblieben.

Der ideale Richter liest sich gut; ins Stocken gerät der Lesefluss einzig, wo personenübergreifende Muster viel zu erschöpfend belegt werden. Inhaltlich wie methodisch zeigen sich die Stärken und Schwächen eines Zugangs, der auf einen dichten, zeitlich gedehnten, aber auch homogenen Quellenkorpus baut: Die Binnenanalyse zeugt von sorgfältiger Arbeit und fördert spannende Erkenntnisse bezüglich der charakterlichen Ausstattung des idealen Richters und deren diskursiven Funktion zutage. Als wichtigstes Ergebnis seiner Dissertation hält der Autor die überraschende Kontinuität der Darstellung des idealen Richters fest. Wandelnde Richterprofile verändern die in den Würdigungen zum Vorschein tretenden Idealvorstellungen also nicht. Ausser Acht lässt Aerschmann dabei, dass einer oberflächlich stabilen Idealvorstellung je nach historischem Kontext eine mitunter radikal andere Bedeutung zukommen kann. Die gesellschaftliche Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstands kommt überhaupt viel zu kurz. Aerschmann bezieht sich trotz des langen Untersuchungszeitraums kaum auf geschichtswissenschaftliche Literatur. Zwar weist der Autor selbst darauf hin, dass der «Bereich des Kontextes partiell vernachlässigt» werde und rechtfertigt dies mit der «Textverliebtheit» der Diskursanalyse. Indes fehlt die gesellschaftliche Sensibilität auch auf der Ebene der untersuchten Texte: Im Buch kommen viele, zu anderem Zweck angeführte Quellenzitate vor, die zeigen, dass der «ideale Richter» nicht nur implizit als Mann gedacht, sondern als explizit «männlich» beschrieben wurde. Dass dieses Diskursmuster nicht erkannt und analysiert wird, ist nicht eine Frage der Methode, sondern eine der fehlenden Geschlechterperspektive.

Den kritisierten Auslassungen zum Trotz leistet Der ideale Richter einen frühen, empirisch gesättigten Beitrag zur historischen Erforschung der Justizeliten der modernen Schweiz und behandelt einen Gegenstand, der im politischen Zeitgeschehen und in der Forschung aktuell bleiben dürfte.

Zitierweise:
Jonathan Pärli: Rezension zu: Stephan Aerschmann, Der ideale Richter. Schweizer Bundesrichter in der medialen Öffentlichkeit (1875–2010), Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 490-491.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 490-491.

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