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Titel
Bürger und Juden. Die Familie Wyler-Bloch in Zürich 1880–1954. Biografie als Erinnerungsraum


Autor(en)
Keller, Erich
Reihe
Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich 9
Erschienen
Zürich 2015: Christoph Links Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Catrina Langenegger, Zentrum für Jüdische Studien, Universität Basel

Die Biografie der Familie Wyler-Bloch führt in einer doppelten Bewegung, zunächst dem Lebensweg von Martin Bloch und danach demjenigen seines Schwiegersohns Hugo Wyler entlang, durch ein bewegtes Stück Schweizer Geschichte. Dabei werden drei verschiedene, sich ergänzende Blickwinkel eingenommen: das biografische Narrativ der Einzelpersonen, dessen historiographisehe Konkretisierung, die dann wiederum mit dem Archiv als Erinnerungsraum kontrastiert wird. Das Familienarchiv als Grundlage der historischen Forschung wird als komplexes Netz verstanden, dessen Lücken ebenso konstruktiv genutzt werden wie die Knoten. Gleichzeitig wird das aktive Eingreifen der Protagonisten in den Bestand des Archivs offengelegt. Dadurch kann die Selbstversicherung der beiden Männer und ihre eigene Verortung in Schweizertum, Bürgertum und Judentum nachvollzogen werden. Ein Beispiel ist die genealogische Forschung, 1935 von Hugo Wyler in Auftrag gegeben. Sie zeigt, dass seine Familie über fünf Generationen in Endingen (AG) gelebt hat. Damit fordert sie in einer Zeit des aufkommenden Antisemitismus Zugehörigkeit ein. Die Genealogie zeigt aber auch etwas Anderes: nur Männer und nur die Linie der Familie Wyler. Aus der Familie Bloch ist nur Trudy vertreten. Eine spannende Beobachtung mit Blick auf den von Keller dargestellten hybriden Entwurf von Identität, zu der auch das Judentum gehört, dessen Zugehörigkeit matrilinear weitergegeben wird.

Dem Zugang zur Familienbiografie sind Grenzen gesetzt, die in dieser Arbeit auf überzeugende Weise bewusst sichtbar gemacht werden. Das Quellenkorpus des Familienarchivs wurde durch seine Protagonisten erstellt und verändert, zugleich weist es Lücken auf. Dem wird durch das Heranziehen literarischer Quellen, besonders für die Zeit des Zweiten Weltkriegs, entgegengetreten. Auffallend ist darüber hinaus der zeitliche Fokus, den Keller für seine Darstellung wählt. Sie blendet da ab, wo die männlichen Vertreter sich zurückziehen. Damit übernimmt Keller, gewollt oder nicht, die genealogische Selbstverortung Hugo Wylers, in der seine Frau Trudy nur eine Nebenrolle spielt.

Der Begriff der «Generation 1900» eröffnet eine Kategorie, welche die beiden Schwiegerväter Josef Wyler und Martin Bloch beschreibt. Nachdem die Schweiz spät die rechtliche Gleichstellung der Juden und auch ihre Kultusfreiheit garantierte, ist es die «Generation 1900», die als erste in die bürgerliche Welt eintreten kann.
Trotz der Quantität sind die Quellen zu Martin Blochs Biografie lückenhaft, dies wird aber nicht als Defizit, sondern als Teil des Selbstentwurfs verstanden. Er träumt von einer Karriere in der helvetischen Trias von Militär, Politik und Wirtschaft. Die Familie erhält nach einigen Bemühungen das Schweizer Bürgerrecht, was Martin Bloch eine Karriere als Anwalt ermöglicht. Beruflich und sozial gelingt ihm der Aufstieg. Er wird Mitglied verschiedener Vereine der jüdischen bürgerlichen Gesellschaftskreise Zürichs. Martin Bloch will seinem Land in der Politik dienen, erreicht dieses Ziel aber nie. Obwohl für ihn die Religion höchstens als philosophische Grösse wichtig ist, engagiert er sich in der Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ). Es gelingt Keller dank biografischer Detektivarbeit, jüdische Interdiskurse und die bürgerliche Selbstpositionierung der Juden in der Schweiz aufzuzeigen, beispielsweise die Zurückhaltung ostjüdischen Hausierern oder dem Zionismus gegenüber. In der Schweiz ist Patriotismus zur Aufgabe geworden, besonders für die Juden. Trotz der Zionistenkongresse in Zürich (1929 und 1937) ist klar, dass man Palästina auf keinen Fall so fördern will, dass es der Schweiz oder den jüdischen Schweizern schaden könnte.

1933 nimmt Martin Bloch die Einladung der Neuen Helvetischen Gesellschaft an, um dort zu referieren. An diesem Abend kommt es zu frontistischen und antisemitischen Agitationen, als Folge davon muss Bloch von seinen Ämtern in der Gemeinde zurücktreten. Das gemeinsam mit seinem Schwiegersohn geführte Anwaltsbüro wird 1942 aufgelöst, fortan arbeitet er in seiner Wohnung. Diese dient ihm und seiner Frau für die nächsten 20 Jahre als Refugium.

Zu Hugo Wyler sind weniger Quellen erhalten als zu Martin Bloch, sie vermögen aber aufzuzeigen, wie er in das bürgerliche Männerbild der Zeit hineinwächst: Nach dem Erlangen des Handelsdiploms und der Matura studiert er Rechtswissenschaften. Im Ersten Weltkrieg absolviert er 200 Aktivdiensttage. Seine zukünftige Frau, Trudy Bloch, bekommt eine «weibliche» Ausbildung. Sie nutzt aber die Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten, die der aufkommende Zionismus bietet. Die Beziehung der beiden wird von den Schwiegervätern unterstützt und Hugo Wyler tritt in die Kanzlei von Martin Bloch ein.

Der Zweite Weltkrieg nimmt im Familienarchiv nicht viel Platz ein. Die Situation des jüdischen Soldaten im Aktivdienst schildert Keller daher anhand der Biografie Kurt Guggenheims. Nach dem Krieg scheint die bürgerliche Welt am Ende. In der Schweiz gibt es aber keine <Stunde Null> und keine kritische Auseinandersetzung - die geistige Landesverteidigung wird mehr oder weniger nahtlos vom Kalten Krieg abgelöst.

Die Familienbiografie blendet hier ab. Aber in dem Moment, als die Männer von der Bildfläche verschwinden, engagiert sich Trudy Wyler immer tatkräftiger in der zionistischen Kulturarbeit. Während die Rückschauen ihres Vaters und ihres Mannes eine Schweizergeschichte, eine Geschichte von Juden in der Diaspora abbilden, ist ihr Erinnerungsraum die Kultur des Judentums. Für sie wird Israel, das die Schweiz nur zögernd als Staat anerkennt, zum freiwillig gewählten Erinnerungs- und Identifikationswert.

Mit diesem Buch eröffnet Keller eine geschichtswissenschaftliche Herangehensweise an Familienarchive, die durch das Beiziehen und die Interpretation von zusätzlichen literarischen, filmischen und bildlichen Quellen und durch die zyklische Erzählstruktur zu einer neuen Darstellungs- und Erkenntnisform führt.

Zitierweise:
Catrina Langenegger: Rezension zu: Erich Keller, Bürger und Juden. Die Familie Wyler-Bloch in Zürich 1880-1954. Biografie als Erinnerungsraum, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 254-256.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 254-256.

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