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Titel
Skandal und Nation. Politische Deutungskämpfe in der Schweiz 1988-1991


Autor(en)
Liehr, Dorothee
Erschienen
Marburg 2014: Tectum - Der Wissenschaftsverlag
Anzahl Seiten
650 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Dominique Stéphane Rudin, Miozzari GmbH Textredaktion und Projektleitung

Die Monografie von Dorothee Liehr geht aus ihrer 2012 in Zürich abgeschlossenen Dissertation hervor. Sie umfasst vier Grosskapitel: Teil I (S. 1-37) ist einführender Art. Teil II (S. 39-241) ist der Wahl 1984 und dem Rücktritt 1989 der ersten Frau in der schweizerischen Landesregierung, Elisabeth Kopp (FDP), gewidmet. Den Gründen und Umständen dieses Rücktritts sollte eine Pariamentarische Untersuchungskommission (PUK) für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) nachgehen. Teil III (S. 243-562) ist der Arbeit und den Berichten der PUK gewidmet sowie den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Dazu gehören der Fichen-Skandal, die im Sommer 1990 eingesetzte PUK für das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) sowie die Proteste und Boykotte gegen die «700-Jahr-Feier» im Jahr 1991. Teil IV (S. 563-579) resümiert die Ergebnisse und bietet einen kurzen Forschungsausblick.

Liehr bringt in beide historische Themenfelder neue Aspekte ein: In Sachen Kopp lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine alternative Interpretation der Ereignisse, die vom massenmedial dominierenden Skandalnarrativ markant abwich und namentlich mit der Genfer Philosophin Jeanne Hersch verbunden ist. Jene habe letztlich versucht, so Liehr, den Kopp-Skandal in eine Affäre zu transfermieren (S. 123-203), im Sinne einer gegen die Bundesrätin geführten Medienkampagne. In Teil III erweitert Liehr die Forschungslage in dreifacher Hinsicht (S. 31): Erstens geht es ihr darum, die «Eklatgenese hinsichtlich des Handels bestimmter Akteure nachzuvollziehen», womit die Formierung und Handlungsentfaltung der PUK EJPD und PUK EMD einerseits, der Protestbewegung gegen den «Schnüffelstaat» andererseits gemeint sind. Zweitens interessiert sie sich nicht nur für Medienschaffende und Parlamentsangehörige, sondern auch für Intellektuelle und Künstler/-innen als Protestakteure. Und drittens geht es ihr um die Auswirkungen, die der Konflikt um die politische Polizei auf die «nationale 'Identität' der Eidgenossenschaft» hatte.

Nebst der erstmals in dieser Form geleisteten Gesamtschau der beiden zusammenhängenden Skandale «Kopp» und «Fichen» tut sich die Studie Liehrs besonders mit dem dritten Teil hervor. Sie stützt sich hier auf eine heterogene Quellenbasis (vgl. S. 36f.). Diese besteht unter anderem aus 17 Interviews, die die Autorin mit damaligen Akteuren/-innen geführt hat, sowie aus Unterlagen des Komitees «Schluss mit dem Schnüffelstaat», die für diese Studie erstmals ausgewertet wurden. Hier ist die Studie anschaulich, analytisch exakt und zielorientiert in ihrer Darstellung, wie von «bestimmten Akteuren» eine «diffuse Empörung in kollektiven Protest» überführt worden war (S. 567). Gelungen ist auch die Einbettung und Kontextualisierung der künstlerischen und intellektuellen Kritik (S. 521-548).

Während der dritte Teil zu den Fichen inhaltlich lesenswert ist, gilt dies für den zweiten nur eingeschränkt. Dies hat mit der problematischen Anlage der Studie zu tun. Die Autorin rekurriert nämlich auf zwei Skandaltheorien, die inkompatibel sind und jeweils einen der beiden Analyseteile prägen. Zum einen ist dies die Theorie Hondrichs, für den Skandale die Funktion einer Herrschaftskontrolle haben;'2 zum anderen diejenige Kepplingers, für den zweifelhaft ist, ob «die Skandalierung [sie] von Missständen [...] für die Gesellschaft generell einen Wert» darstelle; im Umgang mit abweichenden Meinungen vom Mainstream macht er gar in jedem Skandal «totalitäre Züge» aus. 2 Den Kopp-Skandal wertet die Autorin in der Folge mit Kepplinger als «ebenso unrechtmässige wie gnadenlose Ehrverletzung» (S. 570). Der Fichen-Skandal hingegen wird mit Hondrich als gelungene Herrschaftskontrolle interpretiert, auch wenn diese letztlich nur bedingt geglückt sei (S. 575-579). In den beiden Analyseteilen wird also mit unterschiedlichen Ellen gemessen.

Dass die Autorin in Teil II gehäuft in eine skandalisierende Sprache verfällt entspricht dieser Prämisse: Kopps Schweigen sei medial als Verlogenheit verdämmt» worden (S. 235), die monatelange Skandalisierung sei «unerbittlich» gewesen und habe zur «massiven Unterdrückung» ihrer Sichtweise geführt (S. 167). Auch das Portieren des Hersch'schen Narrativs befremdet. Dieser «alternierenden [sie] Auslegung» wird eine «augenfällige» Logik attestiert (S. 241), obschon sie sich auf kaum belegbare Annahmen stützt (vgl. S. 133-135; S. 184-188). Die Anhänger/-innen der assenmedialen Skandalversion hingegen werden mit Kepplinger als «Glaubensgemeinschaft» bezeichnet (S. 202,204). Das ist so nicht haltbar. Die skandalisierende genauso wie die rehabilitierende Version des Falles Kopp haben dieselbe Achillesferse: Aussagen zur rationalen und emotionalen Innenwelt der EJPD-Vorsteherin, sei es zum Zeitpunkt des Telefonats mit ihrem Ehemann am 27. Oktober 1988, sei es in der anschliessenden Phase des Sich-Aus-Schweigens, waren und sind höchst spekulativ.

Zweifelsohne ging vielem, was Kopp an medialen Anwürfen einstecken musste, die journalistische Seriosität ab. Bei aller Kritik zeigt Dorothee Liehrs Studie dies eindrücklich und höchst bedenkenswert auf. Eine Neubeleuchtung der damaligen Dynamiken ist richtig und wichtig, gerade auch unter der Geschlechterperspektive (S. 226). Die Rehabilitation der Alt-Bundesrätin mag denn auch ein legitimes biografisches Vorhaben sein. Doch frei nach Toya Maissen: Die «Affäre Kopp» war vor allem eine «Affäre FDP». Der künftigen geschichtswissenschaftlichen Forschung ist es überlassen, sich eingehender noch der dramatischen politischen Kräfteverschiebungen im bürgerlichen Lager der Schweiz anzunehmen, die sich in jenen Jahren anbahnten. 3

[1] Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen
Skandals, Frankfurt a.M. 2002, S. 31.
2 Hans Mathias Kepplinger, Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien
und die Möglichkeiten der Betroffenen, München 2005, hier v.a. Kapitel «Nutzen des
Schadens», S. 148-161, Zitate S. 148 und 186.
3 Journalistisch: Alan Cassidy, Phüipp Loser, Der Fall FDP. Eine Partei verliert ihr Land,
Zürich 2015.

Zitierweise:
Pafncia Hongler: Rezension zu: Dorothee Liehr, Skandal und Nation. Politische Deutungskämpfe in der Schweiz 1988-1991, Marburg: Tectum Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 332-334.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 332-334.

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