F. Mathis: Mit der Großstadt aus der Armut

Cover
Titel
Mit der Großstadt aus der Armut. Industrialisierung im globalen Vergleich


Autor(en)
Mathis, Franz
Erschienen
Innsbruck 2015: Innsbruck university press
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jon Mathieu, Historisches Seminar, Universität Luzern

Die Grossstadt geniesst in der Tradition des deutschen Sprachraums nicht den besten Ruf. Es gibt einen alteingesessenen Anti-Urbanismus, der sich schon im Wort Verstädterung andeutet. Mit der Grossstadt aus der Armut – der Titel, den der emeritierte Innsbrucker Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Franz Mathis über seine Globalgeschichte der Industrialisierung stellt, mutet vor diesem Hintergrund pointiert an. Die verbreiteten Berichte über Elendsviertel in historischen und gegenwärtigen Grossstädten der Welt könnten eher das Gegenteil suggerieren. Doch Mathis gelingt es, auf knappem Raum seine These plausibel zu machen, dass die Urbanisierung weltweit eine zentrale Voraussetzung für Industrialisierungsprozesse war. Zu dieser Einsicht ist er nach langer Beschäftigung mit Stadtgeschichte und allgemeiner Wirtschaftsgeschichte gelangt. Den Auftakt machte seine Pionierstudie von 1977, in der er die Bevölkerungsstruktur österreichischer Städte im 17. Jahrhundert detailliert untersuchte. Später dehnte er seinen Radius Schritt für Schritt aus und veröffentlichte vergleichende Beiträge zu verschiedensten Regionen und Zeitabschnitten.

Wie viele andere Autoren geht Mathis in seinem neuen Buch davon aus, dass die frühe städtische Bevölkerungsverdichtung die Marktorientierung, die Arbeitsteilung und das technologische Know-how förderte. Im Unterschied zu gängigen Lehrmeinungen betont er nun aber, dass eine zweite Phase der Urbanisierung – nämlich der Übergang zur Grossstadt – den entscheidenden Anstoss zur Indus trialisierung gab. Dazu bedurfte es der Metropolen, die im 19. Jahrhundert eine Bevölkerung von mehreren Hunderttausend und dann auch von Millionen erreichten,
wie London, Paris oder Berlin.

«Erst solche und andere Grossstädte stellten einen genügend grossen und aufnahmefähigen Markt dar, der es sinnvoll und vor allem lohnend erscheinen liess, gewerbliche Waren nicht mehr nur mit handwerklichen Methoden und in relativ kleinen Stückzahlen, sondern auf maschinelle Weise und in viel grösseren Mengen herzustellen. Industrielle Massenproduktion bedurfte eines Massenmarktes, wie er als Folge zum Teil rasch wachsender Bevölkerungen und damit einhergehender Landflucht in den modernen Grossstädten entstand» (S. 17).

Im einleitenden Kapitel arbeitet Mathis die Bedeutung der Bevölkerungsverdichtung und der damit generierten Binnennachfrage für die Industrialisierung heraus, indem er auch auf andere Erklärungen von Wirtschaftsentwicklung und ganz knapp auf frühere Interpretationen der Beziehung Urbanisierung−Industrialisierung eingeht. Die folgenden Kapitel breiten empirische Daten zu den meisten Weltgegenden aus: Europa, Amerika (USA, Kanada, Lateinamerika), Afrika, Asien (Nord- und Zentralasien, Westasien, Südasien, Südostasien, Ostasien) und Ozeanien (mit Australien und Neuseeland). Erfasst werden jeweils Angaben zur Urbanisierung und zur Beschäftigungsstruktur anhand des Dreisektorenmodells, mit der Abfolge Landwirtschaft−Industrie−Dienstleistungen. Als Indikatoren für die Industrialisierung werden in der Regel die Mechanisierung der Textilproduktion, namentlich der Baumwollverarbeitung, und die Eisen- und Stahlindustrie beigezogen. Als Massstab für den Konsum und Wohlstand der Bevölkerung dienen Angaben zur Verbreitung von Autos, Fernsehgeräten und Computern. Den Abschluss des Texts bildet ein Resümee mit dreissig kurzen Punkten zur Beziehung Grossstadt−Industrie und zu deren Einbettung in die Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart.
Franz Mathis hat den Mut zu einer tendenziell optimistischen Einschätzung von globalen Entwicklungsvorgängen und zur prononcierten theoretischen Vereinfachung. Naturgemäss lassen sich in solchen Fällen leicht Wünsche zur Differenzierung in Empirie, Methodik und Theorie anbringen. Wäre es nicht angemessen, auch auf die interessanten frühneuzeitlichen Urbanisierungsvorgänge in China einzugehen? Hätte man die methodischen Voraussetzungen des Dreisektorenmodells nicht ausführen und explizit machen sollen? Genügt eine lange Fussnote in der Einleitung (Fn. 7 auf S. 17) und eine kurze Fussnote im Resümee (Fn. 538 auf S. 192) zur Auseinandersetzung mit anderen Autoren, die sich zur Beziehung Grossstadt−Industrie äussern?

In meinen Augen sollte man hier solche Fragen zurückstellen und vor allem die Tatsache würdigen, dass das Buch von Mathis eine innovative These zu einem überaus relevanten Thema zur Diskussion stellt. Sie beruht auf einer langen persönlichen Auseinandersetzung mit dem Fragenkomplex und weist unübersehbare Stärken auf. So ist die Regionalität von wirtschaftlicher Entwicklung – ein eminent wichtiger Tatbestand – damit besonders gut fassbar. Die These ist auch geeignet, das Bevölkerungswachstum und die Bevölkerungsdichte als Basisfaktoren von wirtschaftlicher Entwicklung in Erinnerung zu rufen, die heute in verschiedenen wirtschaftshistorischen Ansätzen neue Beachtung finden. Es ist also zu wünschen, dass das Buch in der wissenschaftlichen Community eine breite Aufnahme findet und zu weiteren Studien anregt. Da es sich um eine globale Übersicht handelt, wäre dazu eine englische Version besonders vorteilhaft.

Zitierweise:
Jon Mathieu: Rezension zu: Franz Mathis, Mit der Großstadt aus der Armut. Industrialisierung im globalen Vergleich, Innsbruck: innsbruck university press, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 494-496.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 494-496.

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