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Titel
Das Wetter der Nation. Meteorologie, Klimatologie und der schweizerische Bundesstaat, 1860–1914


Autor(en)
Hupfer, Franziska
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik 27
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kris Decker, Universität Luzern

Es gibt Bücher, deren Gegenstände nicht aus der Binnenlogik disziplinärer Diskurse hervorgehen, sondern aus einer Suche nach Phänomenen, Praktiken und Objekten, die im Laufe der Zeit so alltäglich, selbstverständlich, wirkmächtig geworden sind, dass sie in den Kulissen der Gegenwart zu verschwinden drohen und kaum noch in ihrer Gewordenheit zu denken geben. Franziska Hupfers Suche ist an Windmessern, Versuchsballonen, Niederschlagskarten und Hagelschießkanonen um 1900 hängengeblieben. Ihr Buch bewerkstelligt nichts weniger als die Entselbstverständlichung einer Randbedingung neuzeitlichen Daseins: des Wetters, in seiner durch die Meteorologie sichtbargemachten Form. Hupfer schreibt über eine Zeit, in der die Wetterdaten noch nicht über den Computer liefen, sondern von Beobachterinnen und Beobachtern an ihren Stationen erhoben und mit dem Stift in Tabellen verzeichnet werden mussten, ehe sie auf Schreibtischen in der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt zusammengeführt wurden. Der Entstehung und Entwicklung dieser auf den ersten Blick recht unscheinbaren Institution gilt das Interesse der Wissenschaftshistorikerin. Sie skizziert das unendliche Bemühen der Meteorologischen Zentralanstalt um robuste Daten und analysiert die Taktiken, mit denen die Direktoren am "Vereinbarmachen wissenschaftlicher, staatlicher und nationaler Interessenlagen" (S. 287) arbeiteten, um ihre Anstalt in Zürich – ein Pendant des 1878 gegründeten Bureau central météorologique in Paris – als "Teil staatlicher Wissensproduktion" (S. 37) zu etablieren.

Sensibilitäten zu Wind und Sturm, Kälteeinbrüchen und Dürren mögen kulturhistorisch gesehen seit Ur- und Frühzeiten unter uns sein; ein durch die Apparaturen und Theorien der exakten Wissenschaften angeleiteter Zugang zum Wetter hingegen ist noch jung. Nimmt man, wie Hupfer es tut, den Aufbau eines staatlichen Instrumentenmessnetzes als Ausgangspunkt, dann ist das „administrierte Wetter“ gerade einmal um die 157 Jahre alt. Erst durch eine bis in die hintersten Täler Graubündens und hinauf auf den Simplonpass reichende Infrastruktur lässt sich dieses Wetter domestizieren. Allein, Infrastruktur ist teuer: Aufbau und Unterhalt des Messnetzes bedurften der Aufmerksamkeit (und des Segens) von Akteur/innen mit heterogenen Interessen aus der Bundesverwaltung, dem Parlament oder der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft; letzterer fiel – auch aufgrund der helfenden Hände, die sie mobilisierte – in der Institutionalisierung der Wetterbeobachtung eine zentrale Rolle zu.

Das Buch, hervorgegangen aus einer Dissertation, ist in drei Teile gegliedert, in denen die infrastrukturellen Bedingungen, die wissenschaftlichen Eigenheiten und die öffentliche Nutzbarmachung des entstehenden Wetterwissens behandelt werden. Es basiert auf Archivmaterial (unter anderem aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem ETH-Hochschularchiv und der Berner Burgerbibliothek) sowie auf publizierten meteorologischen und klimatologischen Texten, mehrheitlich aus der Zeit zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg. In Teil I analysiert Hupfer, wie die Konturen einer sich etablierenden Meteorologie in der Schweiz einerseits mit "staatliche[n] Rationalisierungs- und Zentralisierungsbestrebungen" (S. 30) zusammenliefen und andererseits von einem als infrastructural globalism bezeichneten Streben berührt waren, das ein "erdumspannendes Netz" (S. 95) an Beobachtungspunkten herbeisehnte.1 Dies zog das Problem der Standardisierung heterogener Daten nach sich. Schon in den 1870er-Jahren, erzählt Hupfer, begann das Weibeln Schweizer Meteorologen für ihr Land als Standort einer internationalen Organisation, die sich der Koordination geographisch verstreuter Datensammlungen annehmen sollte. Erst 1947 erfolgte dann die Gründung der World Meteorological Organization mit Sitz in Genf. Hier und dort ergänzt durch solche Kontextualisierungen, bleiben Hupfers Beschreibungen innerhalb der nationalen Grenzen. Sie geht, was eine/n mikrohistorisch interessierte/n Leser/in freut, bis hinunter auf die Ebene einzelner Messstationen und wartet mit reichen Details zu den Wetterbeobachter/innen auf, die in zum größten Teil unbezahlter Arbeit die Temperatur, den Niederschlag, den Luftdruck, die Windverhältnisse, die Bewölkung und andere Geschehnisse um 7, 13 und 21 Uhr eines jeden Tages festzuhalten hatten. Als das Messnetz im Winter 1863 seinen Betrieb aufnahm, bildeten Lehrer und Pfarrer die Mehrheit der 88 Beobachter, aber auch Gastwirte fanden sich darunter. Obschon letztere "keine Wunschbesetzungen" waren, "stellte sich insbesondere der Pächter des Berghauses auf dem San-Bernardino-Pass als sehr zuverlässiger Beobachter heraus" (S. 63). Andere wurden des regelmäßigen Ablesens, Notierens, Versendens von Zahlenwerten "überdrüssig" (S. 70). Es genügte eben nicht, "standardisierte Instrumente zu verteilen" (S. 40); vielmehr war der wissenschaftliche Wunsch nach einheitlichen, vergleichbaren Daten an die Beständigkeit von Individuen gebunden, die an ihren Stationen jenem Schneefall, Föhn und Hagel trotzen mussten, die sie zu notieren hatten. Nur wenige taten dies über 51 Jahre hinweg, wie der Zolleinnehmer von Castasegna – ein Glücksfall für die professionellen Datenverwalter in Zürich, ebenso die "Vererbung der Beobachterfunktion" (S. 70) an Sohn, Tochter oder Ehefrau. (Wie viele Männer ihre Beobachtungstätigkeit bereits zu Lebzeiten an den wetterfesteren weiblichen Teil der Familie abtraten, werden wir aufgrund der "wenigen direkten Zeugnisse" [S. 66] dieser Akteure wohl nicht in Erfahrung bringen können.)

In Teil II geht Hupfer näher auf die spezifischen Erkenntnisinteressen ein, mit denen die Konstitution und Auswertung der Beobachtungsdaten verknüpft war. Langfristige, verlässliche Datenreihen zu generieren und "die Kontinuität der Instrumente und Methoden" (S. 118) zu sichern, gehörte zu den praktischen Problemen, die die Zentralanstalt auch nach ihrer 1881 erfolgten Promotion zur Bundesbehörde begleiteten. Klimatologische Fragen, die auf die statistische Dimension von Wetter und Witterung über mehrere Jahrzehnte abheben, würden sich erst in der langen Dauer, mithilfe möglichst durchgängiger, vergleichbarer Datenreihen bearbeiten lassen, zum Beispiel die Frage nach den Mikroklimata in einem topographisch mannigfaltigen Land wie der Schweiz. Diese Konstellation brachte die Wetterbeamten der Zentralanstalt gegenüber der Politik in Rechtfertigungsdruck: "Das Argument einer zukünftigen Bedeutsamkeit" (S. 121) der gesammelten Daten wurde zum rhetorischen Instrument, um den Betrieb und die Geldflüsse aus Bern aufrechtzuerhalten. Kein einfaches Unterfangen, angesichts des Umstands, dass "nur sehr wenige der 1863 begonnenen Messreihen auch wirklich durchgängig waren" und bis 1900 "nur gerade 30 Stationen ununterbrochen [beobachteten]" (S. 123). Zudem waren Meteorologie wie Klimatologie zu jener Zeit als Disziplinen bei weitem nicht in dem Maße gefestigt und mit Status ausgestattet, wie sie es heute sind. Dennoch, das Sammeln ging weiter, und die Zentralanstalt warf ihre erste Haut als Wetterregistrierbehörde allmählich ab, indem sie zum Forschungsbetrieb wurde, wie Hupfer entlang der Pläne zur wissenschaftlichen Erschließung des hochalpinen Raumes beschreibt: Auf Bergspitzen erhoffte man sich bahnbrechende Erkenntnisse zu atmosphärischen Prozessen. Dazu musste ein Observatorium her, das unter anderem Windmessungen "in freier Atmosphäre" (S. 140) erlauben sollte. In der Ostschweiz, auf dem 2502 Meter hohen Säntis, fand es einen Ort – ganz zum Leidwesen des Alpenclubs, der die schöne Aussicht getrübt sah. Auch eine Telegraphenleitung war dem Observatorium vergönnt, das ab 1889 mehrere Jahrzehnte vom ehemaligen Malermeister Jakob Bommer und seiner Frau Louise geführt wurde. Sie hatten dafür zu sorgen, dass Erschütterungen und andere Störungen der Messapparate durch vorbeiziehende Wanderer und Gäste des Berggasthauses ausblieben: "Zum Ärger der Meteorologischen Kommission gab das Baedeker-Reisehandbuch an, das Säntisobservatorium sei zum Preis von 30 Rappen zugänglich. (...) Ein weiteres Problem war, dass immer wieder Säntisbergsteiger auf das Anemometerhäuschen kletterten (...). Einmal kam es deswegen sogar zu einem Gerichtsfall, weil zwei Männer bei ihrer Kletteraktion Teile des Anemometers verschoben hatten" (S. 146), notiert Hupfer. Es sind solche kleinen Geschichten, die dem Buch festzustellen erlauben, dass Kontingenzen und Kuriositäten mehr sind als Beiwerk zur „eigentlichen“ Entwicklung einer wissenschaftlichen Unternehmung; dass sie bis in deren Wurzelwerk hineinreichen.

Im letzten Teil der Monographie erörtert die Autorin, was es für die wissenschaftlichen Projekte der Zentralanstalt bedeutete, sich gemäß ihres Auftrags an Kriterien "praktischer Nützlichkeit" (S. 14) bewähren zu müssen. Wetterwissen wurde von offizieller Seite als "bundesstaatliche Dienstleistung" verstanden, die "Modernisierungsbestrebungen in verschiedenen Bereichen unterstützen sollte" (S. 195), ob zum Zweck des Schutzes vor Hochwassern und Unwettern oder im Tourismus, wo mit milden Temperaturen und unterdurchschnittlichem Niederschlag geworben wurde, so in einem "klimatischen Kurort" (S. 199) am Vierwaldstättersee. Umstritten war, ob die Zentralanstalt auch einen Prognosedienst aufbauen sollte: Zu ungenau, zu wenig ortsspezifisch waren die Prognosen in der Anfangszeit; zu unausgereift erschienen manchen Fachvertretern die wissenschaftlichen Werkzeuge, sodass befürchtet wurde, "allfällige Fehltreffer" würden "die Autorität der Wissenschaft insgesamt kompromittieren" (S. 234). Die vertrackte Geschichte, die dazu führte, dass dem täglichen Wetterbericht ab 1881 schließlich doch eine Prognose beigefügt wurde, ist gespickt mit der politischen Findigkeit des Zentralanstaltsdirektors Robert Billwiller, der in Hupfers Darstellung eine Hauptrolle spielt – und der lange an der Situation zu beißen hatte, dass die offiziellen Wetteraussichten im Verhältnis zu "tradiertem Erfahrungswissen" (S. 208), etwa dem anders beschaffenen Wetterwissen der Bäuerinnen und Bauern, als entbehrlich galten.

Den 297 materialreichen Seiten der Studie hängt erst nach dem Schlusswort ein 16-seitiger Literaturbericht an. Ist hier im Drucksatz etwas durcheinandergeraten? Wollte Hupfer die Leserschaft nicht mit einer akademischen Pflichtübung langweilen? Kritikwürdig ist auch der Umstand, dass Hupfer die konkreten Handgriffe und Überlegungen der Wetterbeamten an ihren Schreibtischen, auf denen beispielsweise die Tabellen aus dem Feld bearbeitet und die täglichen Wetterberichte angefertigt werden mussten, nur kurz und kursorisch abhandelt. Welche neuen Wendungen hätte unser Nachdenken über die beiden Großbegriffe „Infrastruktur“ und „Daten“ bekommen, wenn sich das Buch etwas tiefer in epistemologisches Terrain hineingewägt hätte? Wenn es über die Bestätigung kanonisch zu nennender Konzepte – etwa von Star & Griesemer (boundary objects), Latour (immutable mobiles) und Rheinberger (technische Dinge) – hinausgegangen wäre oder diese verschoben, gar verabschiedet hätte? Tant pis; die Studie hat so viel anderes zu bieten, dass sie diese theoretische Ebene nicht zwangsläufig nötig hat. Vielleicht hätte eine Metaperspektive den dichten Charakter der Erzählung durchbrochen, die die infrastrukturellen, politischen und alltäglichen Details eines entstehenden Wissensfeldes mit einer Präzision verwebt, die mich durch jedes der neun Kapitel hindurch begeistert hat.

Die weitere Rezeption wird zeigen, ob „Das Wetter der Nation“ irgendwann als Gedenkschrift in einer Vitrine des Bundesamtes für Meteorologie und Klimatologie (besser bekannt als Meteo Schweiz, der Nachfolgeinstitution der einstigen Zentralanstalt) offizialisiert wird. Darauf sollte das Schicksal des Buches nicht beschränkt sein, denn es geht Leserinnen und Leser weit jenseits spezialisierter Kreise und auch jenseits der Wissenschaftsgeschichte etwas an: als exemplarische Studie für das Anliegen, die historischen Tiefenschichten einer von Wetter- und Klimadingen bewegten Gegenwart freizulegen.

Anmerkung:
1 Paul N. Edwards, A Vast Machine. Computer Models, Climate Data, and the Politics of Global Warming, Cambridge (Mass.) 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
08.09.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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