D. Schulte: Die zerstörte Stadt

Cover
Titel
Die zerstörte Stadt. Katastrophen in den schweizerischen Bilderchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts


Autor(en)
Schulte, Daniela
Reihe
Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 41
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Preis
CHF 48.00; EUR 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Julia Bruch, Historisches Institut, Universität zu Köln

Das zu besprechende Buch ist aus der Dissertation von Daniela Schulte hervorgegangen, die im Herbstsemester 2017 an der Universität Zürich angenommen worden ist und für den Druck geringfügig verändert wurde. Als große Stärke der Arbeit ist die Interdisziplinarität hervorzuheben, die sich aufgrund des gewählten Quellenbestandes fast schon natürlicherweise ergibt. Schulte macht die schweizerischen Bilderchroniken zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Steht man mit der Erforschung von Chroniken ohnehin zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft, kommt bei den Bilderchroniken die Kunstgeschichte noch hinzu. Zusätzlich merkt man der Arbeit die Herkunft aus dem Züricher Forschungsschwerpunkt „Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven“ an. So gehen die Disziplinen in einer medien- und kommunikationsgeschichtlichen Fragestellung auf: Schulte arbeitet zur Frage, wie Stadtzerstörungen in unterschiedlicher medialer Beschreibung in Text und Bild innerhalb der schweizerischen Bilderchroniken vermittelt und gedeutet werden.

Die Autorin untersucht dafür handschriftliche und gedruckte Chroniken. Allen voran stehen die Berner Chronikmanuskripte von Benedicht Tschachtlan (gestorben 1493), Heinrich Dittlinger (gestorben 1479) und Diebold Schilling dem Älteren (gestorben 1486), hinzu kommen die handschriftlichen Werke von Diebold Schilling dem Jüngeren (gestorben 1515), Gerold Edlibach (gestorben 1530), Werner Schodoler (gestorben 1541) und Christoph Silberysen (gestorben 1608), die zudem in Beziehung gesetzt werden zu den illustrierten Drucken von Johannes Stumpf (gestorben 1577/78) und Christian Wurstisen (gestorben 1588). Ein beträchtlicher Quellenkorpus für eine Dissertation (die Chronik von Tschachtlan umfasst allein 1.060 Seiten und 239 kolorierte Federzeichnungen, die Chronik von Stumpf rund 1.650 Seiten und 2.000 Bilder). Die Chroniken stammen zudem aus unterschiedlichen Städten der Eidgenossenschaft. Schultes Untersuchungszeitraum, das 15. und 16. Jahrhundert, ist ebenfalls hervorzuheben. Er erlaubt die Erforschung von Handschriften und Drucken sowie die Effekte der Reformation, die gerade in der Deutung der Welt, wie sie in Chroniken vermittelt werden, Veränderungen bewirkte. Diese Fülle an Quellen und Themen in einer bewegten Zeit lässt sich nur durch Auswahl bändigen und so konzentriert sich Schulte auf die Darstellungen von Stadtzerstörungen in Text und Bild.

Ausgangspunkt der Autorin ist die Beschreibung des Erdbebens von Basel (1356) durch Stumpf. Daran entzündet sich ihre Grundfrage: Wie wird eine Stadtzerstörung zu einem katastrophalen und damit erinnerungswürdigen Ereignis konstruiert, sodass sie sich derart nachhaltig ins kollektive Gedächtnis der Stadt einschreiben konnte? Als zentrales Medium dieses Prozesses sieht Schulte die Bilderchroniken, in denen Sinnstiftung und Geschichtsbilder in Texten und Illustrationen vermittelt werden. Die Arbeit ist in drei ausgewogene Großkapitel unterteilt (Kapitel 2–4). In Kapitel 2 stehen die Entwicklung der Bilderchroniken und ihre Funktionen im Fokus; dabei wird der Schwerpunkt auf die Erzählkonzeption von Stadtzerstörungen gelegt, die Chroniken werden vorgestellt und Abhängigkeiten deutlich gemacht. Kapitel 3 fragt danach, mit welchem medialen Repertoire Stadtzerstörungen als Katastrophen innerhalb der Chroniken visuell und textuell inszeniert wurden. Mit dem Komplex der Sinngebung innerhalb der Chroniken mittels Narrativen beschäftigt sich Kapitel 4. Dahinter steht der Gedanke, dass Katastrophen als kontingente Extremereignisse, die Lebenswelt der Menschen verändern und grundsätzlich erklärungs- und sinnbedürftig sind.1

Schultes Ansatzpunkt im zweiten Kapitel ist die Funktion von Geschichtsschreibung innerhalb der Stadt. Sie setzt an der Forschung zur Erinnerung und Identität der städtischen Eliten an, als deren Ausdrucksmöglichkeit sie die repräsentativen Bilderchroniken interpretiert. Die Chroniken waren in Privatbesitz oder im Ratsarchiv und deshalb nur für einen exklusiven Kreis zugänglich. Sie verbinden in diesem Sinne mehr die Eliten der unterschiedlichen Städte miteinander als die verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb einer Stadt. Die verwendeten Begriffe „Oberschicht“, „Führungsschicht“ und „Ratsschicht“ werden nicht näher definiert. Für den/die Sozialhistoriker/in bleiben an dieser Stelle offene Fragen, zumal die gedruckten Chroniken den Kreis der Rezipient/innen um ein Vielfaches erhöht und sich die Frage anknüpft, wessen Auffassung von Geschichte im Folgenden untersucht und miteinander verglichen wird.

Schulte geht es jedoch nicht nur um die Konstruktion von Erinnerung und Identität, sondern auch um die Generierung und Tradierung von historischem Wissen. Daraus folgt eine große Stärke der Arbeit: Schulte untersucht Beschreibungen von Stadtzerstörungen in zeitlicher und räumlicher Perspektive, um so Veränderungsprozesse deutlich machen zu können. So zeigt sie, wie eng die Chroniken zusammenhängen und dass Transferprozesse zwischen Konvention und Innovation bzw. Variation zu beschreiben sind. Hervorzuheben ist das Teilkapitel zum Erdbeben von Basel (S. 69–86) als detaillierte Tiefenbohrung, die in der Frage nach der Herkunft von Text und Bild weit über den Untersuchungskorpus hinausgeht. Schulte bindet für die Analyse verschiedene Auflagen der Drucke sowie Übersetzungen ebenso mit ein, wie andere Werke (etwa die Schedelsche Weltchronik). An dem Beispiel zeigt sie, wie Geschichtsbilder tradiert, verändert und schließlich festgeschrieben wurden und dennoch Deutungsmöglichkeiten für die jeweils eigene Gegenwart offenließen. Außerdem wird gezeigt, welche Medien bei der Entstehung ineinandergriffen (von der gedruckten Chronik bis hin zum mündlichen Merkvers).

Im dritten Kapitel arbeitet die Autorin die Mittel heraus, die eingesetzt wurden, um eine Stadtzerstörung als katastrophales Ereignis zu konstruieren. Dafür analysiert sie die einzelnen Gründe für die Zerstörung und deren Darstellungen in den Bilderchroniken. Das Erdbeben zeigt sich als interessantes Beispiel, da dort im Gegensatz zum Feuer und Hochwasser für die Bilder erst eine Darstellungsart gefunden werden musste; schließlich zeigte sich Sebastian Münsters Cosmographia als formgebend. Für die textliche Darstellung wählten die Chronisten neben der Verortung des Geschehens in Zeit und Raum eine spezifische Katastrophenrhetorik (Dramatik des Ereignisses, negative Bewertung der Folgen, Betroffenheit von Menschen). Zudem erfolgten Wertungen besonders durch Emotionalisierung. Schulte legt folglich über die Erzählungen ein Schema der Narratologie und ihre Argumentation ist durchaus nachvollziehbar. Zur Bewertung der Darstellung von Stadtzerstörungen als Katastrophen wären allerdings Beispiele aus anderen Bereichen zur Kontrastierung hilfreich gewesen. So bleibt die Frage nach der Exzeptionalität der Erzählungen offen.

Unklar ist, warum die Autorin neben Feuer, Hochwasser und Erdbeben dem Hagel ein eigenes Teilkapitel widmet. Hagelschäden finden weder in den Bildern der Chroniken noch in der weiteren Analyse ihren Platz. Ebenso wird dem Krieg als mögliche Ursache von Stadtzerstörungen ein Unterkapitel gegeben, worin sie erklärt, warum Kriegszerstörungen nicht unter Katastrophenereignisse fallen: Eine Stadtzerstörung galt als legitimes Kriegsmittel. So wurden Kriegshandlungen nur als Katastrophe inszeniert, wenn damit eine Illegitimität ausgedrückt werden sollte. Die Idee Kriegszerstörungen herauszunehmen, ist auf der theoretischen und der arbeitsökonomischen Ebene nachvollziehbar. Auf analytischer Ebene ergibt die Unterscheidung nur bedingt Sinn, wie Schulte selbst anhand der Chronik von Stumpf zeigt: Hier wird der Holzschnitt, der die kriegsbedingte Zerstörung Rapperswils (1350) darstellt, für den Stadtbrand von Bern (1405) genutzt. Rezipiert wurde die Abbildung in Silberysens handschriftlicher Chronik, wo sie ebenfalls die Zerstörung von Rapperswils (1350) und einen weiteren Stadtbrand von Bern (1387) visualisiert. So war die Zerstörung durch Krieg und durch Brand mit demselben Repertoire erzählbar.

Im vierten Kapitel werden Stadtzerstörungen als ein erklärungsbedürftiger Bruch der aktuellen Ordnung untersucht. Zerstörungen brachten neben Trümmern und Toten soziale Risse mit sich, die in der Betonung der städtischen Gemeinschaft und der Erzählung von wiederhergestellter Ordnung kommunikativ bewältigt wurden. Die städtische Gemeinschaft wird als Schicksals- und Heilsgemeinschaft stilisiert. An dieser Stelle hätte den sozialen Gruppen, innerhalb derer die Chroniken entstanden und rezipiert wurden, aus analytischen Gründen mehr Beachtung geschenkt werden können. Die handschriftlichen Bilderchroniken sind Schrifttum der Führungseliten und vermitteln deren Geschichtsbild. Sie repräsentieren keinesfalls das Geschichtsbild der gesamten städtischen Bürgerschaft oder Bevölkerung, was Schulte in der Einleitung thematisiert. Die gedruckten Chroniken hingegen standen mehreren sozialen Gruppen der Städte zur Verfügung und boten damit ein erweitertes Deutungsangebot. Das Potential des gravierenden Unterschieds zu den gedruckten Chroniken wurde in der Analyse nicht ganz ausgeschöpft.

Zusammenfassend möchte ich die Stärken der Arbeit hervorheben: Neben der interdisziplinären Herangehensweise, der gleichberechtigten Analyse von Bild und Text sowie Manuskript und Druck sowie der Quellenfülle, ist der komparative Ansatz zu nennen, der zu weiterführende Ergebnissen in der Verarbeitung und visuellen wie textuellen Darstellung von Ereignissen innerhalb städtischer Chroniken liefert. Insgesamt führt die Studie vor Augen, wie aussagekräftig Bilderchroniken sind, wenn sie mit einem multiperspektiven Forschungsansatz untersucht werden.

Anmerkung:
1 Definition nach Jan Dietrich, Katastrophen im Altertum aus kulturanthropologischer und kulturphilosophischer Perspektive, in: Angelika Berlejung (Hrsg.): Disaster and Relief Management. Katastrophen und ihre Bewältigung, Tübingen 2012, S. 85–116.

Redaktion
Veröffentlicht am
29.09.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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