D. Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam

Cover
Titel
Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit


Autor(en)
Gugerli, David
Erschienen
Frankfurt am Main 2018: S. Fischer
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Tobias Hodel, Walter Benjamin Kolleg, Digital Humanities, Universität Bern

Erzählungen zur Entwicklung des Computers und zur weltweiten Vernetzung bilden seit einigen Jahren ein eigenes Publikationsfeld, das sich offensichtlich einer großen Beliebtheit erfreut, anders lässt sich die Vielzahl an verfügbaren Titeln schwer erklären.1 David Gugerli beschreitet mit seinem „Wie die Welt in den Computer kam“ einen Weg abseits des Mainstreams. Ihm geht es nicht um ein lineares Fortschrittsnarrativ, das mit dem Internet (Marke 2.0/3.0/4.0) seine apotheotische Vollendung in selbstreferenziell kommunizierenden Datenbeständen findet. Vielmehr orientiert sich der Technikhistoriker an den neuen Ansätzen der Zunft, die Problemgemenge der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen darlegen und Entscheidungen aus dieser Warte nachvollziehbar machen. Gerade im Umfeld der Digitalisierungsbemühungen des letzten Jahrzehnts werden Reminiszenzen an die gute alte Computerbastlerzeit geschönt herumgereicht. Gugerlis Herangehensweise unterscheidet sich fundamental von solchen Erzählungen.

Das handliche Buch deckt ungefähr die Zeit von 1950 bis Ende der 1980er-Jahre ab, womit eine Zeitspanne angesprochen wird, die traditionellerweise außerhalb des Fokus liegt. Sie beginnt nach der Pionierzeit und den Verstrickungen im Zweiten Weltkrieg und endet mit dem Beginn des Internetzeitalters. Damit werden zwei Bereiche gekonnt umschifft: einerseits die Darstellung der Ursprünge und damit verbundene Mythen und Heldennarrative, andererseits der noch nicht abgeschlossene Siegeszug des Internets mit seinen sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwicklungen. Dabei vermag Gugerli dennoch aufzuzeigen, weshalb gerade diese vierzig Jahre dem Computer in den Ausprägungen „Mainframe“ und „Personalcomputer“ zum Durchbruch verhalfen. Entsprechend bilden wirtschaftshistorische Gründe, Stichwort „Massenmarkt“, die Rahmung. Damit sei auch schon angedeutet, wie durchdacht der Aufbau des Buches ist.

In fünf Kapiteln wird in mehr oder weniger chronologischer Form aus einzelnen Praktiken die Entwicklung des Computers, aber auch des um ihn herum entstehenden Marktplatzes beschrieben. Die Flughöhe und die Perspektive wechseln dabei fleißig, sodass ein rundes und vor allem gut lesbares Buch entstand.

Den Anfang macht der UNIVAC, ein Rechner, der kommerziell vermarktet und vor allem auch vielfach verkauft wurde. Anhand dieses Modells kann nachvollzogen werden, was als Killerapplikation verstanden wurde und die Industrie, Finanzwirtschaft, aber auch mittelgroße Unternehmen zur Anschaffung bewog. Interessanterweise war es nicht ausschließlich das Rechnen, sondern Ordnungs- und Sortieroperationen, die gleichzeitig die Phantasie soweit anregten, dass das Thema des Programmierens nicht nur in Wissenschaft, sondern auch in der Industrie aufkam. Die untergeordnete Rolle der Programmierer/innen wird dabei ebenso herausgearbeitet, wie das Folgeproblem der Geräte- und Datenformatierung zur Bearbeitung, was an aktuelle Diskussionen um die Langzeitaufbewahrung von (Forschungs-)Daten erinnert.

Der zweite Block wendet sich einem scheinbar technischen Problem zu und spielt sich vorwiegend innerhalb der akademischen Kommunikationssphäre ab. Konkret geht es um Fragen der Ressourcenteilung und der zunehmend digitalen Verwaltung von Prozessen und der Rechnerleistung. Nebenbei wird hier eine Begriffsgeschichte der Informatik geschrieben, indem etwa der Supervisor oder das operating system (Betriebssystem) auftauchen; Begriffe, die in unterschiedlichen Formen bis ins 21. Jahrhundert fortleben.

Erst aufgrund solcher leistungs- und vor allem auslagerungsfähiger Systeme waren rechnerische Großleistungen wie die Mondlandung überhaupt möglich. Das Bild und die damit verbundene Metapher der mission control in Houston, der Kommunikations- und Entscheidungszentrale der NASA, erhebt Gugerli zum Mittelpunkt des dritten Kapitels, das die Synchronisierung von Prozessen über Kilometer und im Fall der NASA bis ins Weltall zum Thema hat. Neben der komplexen personellen Entscheidungsstruktur wird auch die Auslagerung von einzelnen Berechnungen auf spezifische Rechner nachgezeichnet, wobei schon damals die „technische Struktur kaum mehr zu durchschauen war, nicht einmal von jenen, die in ihm arbeiteten“ (S. 93). Die enge, synchronisierte Verbindung von Bild, Ton und Berechnung wirkt noch heute nach, etwa indem das Setting der mission control Eingang in eine Unzahl an popkultureller Referenzen gefunden hat.

Mit dem Ende der 1960er-Jahre hatte der Computer den Durchbruch in der Wirtschaft und Verwaltung geschafft. Damit beginnt die Zeit des Konkurrenzkampfs zwischen den Hersteller/innen, die bis zu diesem Zeitpunkt ihre Computer mitsamt Betriebssystemen und Programmen auslieferten. Die Kund/innen waren gefangen in einem kostspieligen System. Dies führte zum Aufschwung von kostengünstigeren Rechnern, die Möglichkeit zum Programmieren boten. Die noch heute gängige, aber nicht immer konsequent mögliche Trennung von Hard- und Software resultierte daraus, verbunden mit der Entstehung von zwei mehr oder minder unabhängigen Märkten (oder, wenn wir die Produktion von Peripheriegeräten dazu rechnen, gar drei Märkten). Parallel wurde nun auch darüber gestritten, welche Programmiersprachen die „richtigen“ – im Sinne von einfach, logisch oder effizient – waren.

Im gleichen Kapitel wird der Effekt des digitalen Versprechens mit zwei Projekten aus dem deutschsprachigen Raum nachgezeichnet. Während die Kurverwaltung Bad Wörishofen in Bayern wohl nicht als digitales Vorzeigeexempel erwartet würde, sind die Schweizer Bankgesellschaft und ihr damaliger Konkurrent, der Schweizerische Bankverein, eher nachvollziehbare Studienobjekte. Bei allen drei gestaltete sich der „digitale Wandel“ anders als erwartet und resultierte in unterschiedlich kostspieligen Ausflügen in ein bis dato unbekanntes Feld. Die Lehren daraus sind weniger die Konsequenzen für Tourismus und Bankenwesen, sondern vielmehr, dass die Initialinvestitionen in rechnergestützte Prozesserneuerung häufig und wiederholt die kurzfristig erzielten Gewinne (seien diese monetär oder effizienzmäßig) um ein Mehrfaches übersteigen. Eine Erfahrung, die wohl alle schon gemacht haben, die sich in derartige Unternehmen stürzten. Der Reigen an misslungenen Digitalisierungsefforts endet beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden und im Versuch, Verbrechen nicht nur rasch aufzuklären, sondern minority report-mäßig vorauszusagen.2

Das letzte Kapitel widmet sich den Fragen der Vernetzung und endet mit der „Erfindung“ des weltweiten Netzes. Die dazu nötigen Schritte und Fehlschläge führen wieder weg von kommerziellen Playern, hin zu Militär (Stichwort ARPANET) und akademischen Diskussionen über Schnittstellen und Standards. Es sind genau solchen Stellen, an denen Gugerli sein Repertoire auspackt und aufzeigt, wie technischer Fortschritt von Detailproblemen zu umfassenden, pragmatischen Lösungen führen kann. Dabei sind es nicht immer die technisch saubersten Ansätze, sondern häufig auch Kompromisse, die sich durchsetzen.

Der regelmäßige Wechsel der Perspektiven und Fokusse ist denn auch eine grandiose Stärke des Werks: Von der Platine über Computernetzwerke bis zum gesamten Computermarkt in seinen Segmenten lassen sich mehr oder minder konsequente Entwicklungen nachvollziehen. Etwa, weshalb die enge Verschränkung der heute getrennten Soft- und Hardwarewelten zu Problemen bei der Kommunikation zwischen Systemen und gar einzelnen Rechnern führte - eine Thematik, die heute nur noch in gehässigen Forendiskussionen über die Handlichkeit von Betriebssystemen und damit verbundenen Markenprodukten durchschimmert, aber nicht mehr annähernd an die vorhergehenden Aushandlungsprozesse erinnert.

Das Werk weist indes zwei neuralgische Punkte auf, die nach der Lektüre einen etwas schalen Beigeschmack hinterlassen. Frauen spielen im Werk keine Rolle, obwohl die Mondlandung bzw. das gesamte Apollo-Programm ohne „weibliche Computer“ nicht möglich gewesen wäre. Als Backup zu den technisch hochgerüsteten Maschinenräumen stellten nämlich noch bis in die 1970er-Jahre Rechnerinnen das Rückgrat der Analysen und Berechnungen.3 Aber nicht nur dort, auch in Universitäten und Großbetrieben war Programmieren durchaus Angelegenheit einer weiblichen Verwaltungsangestelltenschicht.4 Erst mit dem erhöhten Prestige des Umgangs mit den Rechnern änderte sich das Geschlechterverhältnis.

Die zweite Lücke findet sich in den Rohstoffen, die einen Ausbau der Produktion ermöglichten und so etwas wie Massenmärkte überhaupt denkbar machten. Wenn zwischen 1940 und 1960 die Kupferförderung verdoppelt wurde, zeigt dies einerseits die verfügbare Kapazität, aber auch eine erhöhte Nachfrage und die Möglichkeit, die Materialien zu verarbeiten. Bevor die Welt in den Computer kommen konnte, musste der Computer gebaut sein; basierend auf Rohstoffen, die nur selten im Silicon Valley anzutreffen sind. Natürlich sprengt die ausführliche Behandlung der beiden großen Themenblöcke den gewählten Rahmen. Einige gedankliche Ausflüge in die Richtung wären aber nicht nur aufschlussreich, sondern würden die globalen Interdependenzen aufzeigen und dem Buch eine wirtschaftshistorische Tiefe geben.

Eine formidable Stärke des Buchs bleibt leider in der Methode versteckt. Konsequent bedient sich Gugerli der zugänglichen Volltexte der damals noch nicht all zu weiten Zeitschriftenlandschaft der Computerwissenschaften. Die Paper des Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) und der Association for Computing Machinery (ACM) wurden konsequent ausgewertet und entsprechende Trends textuell verarbeitet. Obwohl die Volltextsuche mittlerweile als triviales Instrument bekannt ist und breit eingesetzt wird, wäre eine Reflexion der Methode ein interessanter Weg gewesen, um den eigenen Einsatz der digitalen Technologie – nach Vereinheitlichungs- und Vernetzungsschritten – stark zu machen.

Insgesamt lohnt sich die Lektüre der dreihundert Seiten durchaus. Nicht nur für Computerenthusiasten mit Hang zur Verklärung der Vergangenheit, sondern insbesondere für Technikhistorikerinnen bietet das Buch erstmals einen Überblick, in dem technische Details genau herausgearbeitet, aber dennoch an kulturelle und soziale Bedingungen und Konsequenzen geknüpft werden. Ich würde sogar meinen, dass der Blick auf die Praktiken des frühen Computermarkts Raum für eine zukünftige weitere Erforschung einer Zeit schafft, als Computer sich anschickten, die Welt zu erobern, und sich die Welt in die Rechner verschob.

Anmerkungen:
1 Eine Suche nach „Computer“ und „Geschichte“ mit der Einschränkung auf die Kategorie „Computer und Internet“ zeitigt auf amazon.de eine Trefferliste mit „mehr als 8'000“ Einträgen (Stand 30.06.2020).
2 Hierzu sei auch auf die bei Gugerli entstandene Dissertation von Hannes Mangold verwiesen: Hannes Mangold, Fahndung nach dem Raster: Informationsverarbeitung bei der bundesdeutschen Kriminalpolizei, 1965–1984, Zürich 2017.
3 Siehe dazu das mittlerweile verfilmte Werk: Margot Lee Shetterly, Hidden Figures: The Untold Story of the African American Women Who Helped Win the Space Race, 2016.
4 Clive Thompson, Coders: The Making of a New Tribe and the Remaking of the World, New York 2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
01.09.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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