In seinen späten Jahren verfasste Cassiodor, einst einer der mächtigsten Männer im Römischen Reich und nunmehr Privatier in seiner Gründung Vivarium, einen Traktat über die Rechtschreibung der lateinischen Sprache. Es handelt sich um eine nicht besonders gut geordnete Zusammenstellung von Auszügen aus früheren römischen Orthographen (darunter solche, die in ihrer Gesamtheit verloren gegangen sind, u.a. Papyrianus und Curtius Valerianus), in denen in langen Listen die korrekte Schreibweise schwieriger Wörter beschrieben wird. Das Werk hat in der Forschung zu Spekulationen geführt. Mit den Institutiones hatte Cassiodor einige Jahrzehnte früher Vivarium ein durchdachtes Handbuch des Wissens geschenkt, und viele haben sich gewundert, dass er sich nunmehr, um 580–585, ans Ende seiner Tage gelangt, genötigt fühlte, ein solch einfaches Werk zu verfassen. Patrizia Stoppaci, welche den Traktat kritisch herausgibt, weist aber darauf hin, dass Cassiodor lange daran hat arbeiten müssen. Das Ergebnis waren offenbar zumindest zwei Versionen des Textes, wovon sich nur die Ausgabe letzter Hand erhalten hat. Bisher mussten die Forscher mit der verdienten Edition in der grossen Reihe der Grammatici latini von Heinrich Keil arbeiten, der mit drei Handschriften den Text ediert hatte. Stoppaci kann textuelle Fortschritte aber unter anderem deswegen erzielen, weil sie sich auf mehrere Handschriften stützen kann, die Keil unbekannt geblieben sind (u.a. einen Bodleianus aus dem späten 9. oder beginnenden 10. Jh., Canon. Class. Lat. 279; insgesamt nutzt Stoppaci zehn Handschriften). Die Herausgeberin legt eine gediegene Edition vor. Nach einer kurzen Einführung zum Werk und seinen Quellen (XXXVII–L) beschreibt sie die handschriftliche Überlieferung im Detail (LI–LXVIII), stellt die bisherigen Editionen vor (LXIX–LXXII: man schätzt hier das ausgewogene Urteil über die Vorgänger) und geht auf die Eigenschaften der Codices bzw. auf die Beziehungen zwischen den zehn Handschriften ein, die das Werk tradieren (LXXIII–CXXVII). Ihre These, die Überlieferung enthalte Fehler, die nicht nur auf den Archetypus, sondern sogar auf den Autor zurückgehen, ist mutig und wird sicherlich Anlass zu Diskussionen geben, u.a. wegen der Möglichkeit, dass sie aus den Quellen übernommen wurden (XCVI–CXXVII; in diesem Fall wären sie keine ekdotisch relevanten Fehler mehr im strengen Sinne); ihre Argumentation ist indes schlüssig und liefert dem Leser die wichtigsten Informationen, damit er sich ein Urteil bilden kann. Die gebotene Ausführlichkeit weisen eine detaillierte Behandlung der Quellen des Traktates (CXIX–CLXXVI) sowie ein interessantes Kapitel über die Rezeption des Werkes vom 7. Jh. (bei Beda und Isidor) bis in die Frühe Neuzeit (CLXXVII–CCXXV) auf. Die Edition selbst ist technisch tadellos (3–80). Mit diesem Buch legt Patrizia Stoppaci einen wichtigen Beitrag zur Erforschung nicht nur von Cassiodors Werken, sondern auch der Tradition der Rechtschreibelehren insgesamt von der Spätantike bis ins Mittelalter vor.
Zitierweise:
Michele C. Ferrari: Rezension zu: Cassiodoro, De orthographia. Tradizione manoscritta, fortuna, edizione critica a cura di Patrizia Stoppaci (Edizione nazionale dei testi mediolatini 25), Firenze, SIS-MEL/Edizioni del Galluzzo, 2010, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=25427. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 490.