M. Cottier: Liberalismus oder Staatsintervention

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Titel
Liberalismus oder Staatsintervention. Die Geschichte der Versorgungspolitik im Schweizer Bundesstaat


Autor(en)
Cottier, Maurice
Erschienen
Zürich 2014: NZZ Libro
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ismael Albertin, Geschichte, Schweizer Geschichte, Universität Bern

Mangelerfahrungen sind der Schweizer Bevölkerung fremd. Das erstaunt in einem Land, das über wenige Rohstoffe verfügt und 40 Prozent der Lebensmittel importiert. Maurice Cottier geht in seinem Buch der Versorgungspolitik auf Bundesebene nach. Er fokussiert auf die rechtliche und administrative Organisation der wirtschaftlichen Landesversorgung, «mit welcher der Bundesrat die Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft mit den essentiellen Gütern sicherzustellen suchte» (12).

Cottier untersucht die Versorgungspolitik des Bundesstaates in einem Längsschnitt von 1848 bis heute. Er schreibt nicht einfach eine Institutionsgeschichte, sondern spannt den Bogen weiter und bettet sie in den Kontext der allgemeinen Schweizer Geschichte. Denn die Versorgung eines Landes wird permanent politisch ausgehandelt und ihre Form verändert sich im Verlaufe der Zeit den Umständen entsprechend.

Laut Cottier prägten die herrschenden wirtschaftlichen Doktrinen – Liberalismus, Keynesianismus, Neoliberalismus – die Landesversorgung. Er lässt sich darum von einem kultur- und ideengeschichtlichen Ansatz leiten.

Von der Bundesstaatsgründung bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs beschreibt Cottier eine Versorgungspolitik, die vom Paradigma einer liberalen Wirtschaftspolitik dominiert wurde; es existierte folglich keine institutionalisierte Landesversorgung. Die Regierung setzte auf den Markt und die internationale Arbeitsteilung, das Eisenbahnnetz machte wichtige Importe aus fernen Ländern möglich. Trotzdem kam es in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges zu minimalen Justierungen. Für den Kriegsfall verwaltete das Militär ab den 1890 er-Jahren kleine Vorräte. Mit dieser Ausnahmeregelung konnte der Bundesrat das liberale Kredo einer strikten Trennung zwischen Privatwirtschaft und Staat aufrechterhalten. Die marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftspolitik hatte Strukturzwänge geschaffen, die im Ersten Weltkrieg, als der freie Markt nicht mehr funktionierte, die Schweizer Versorgung hart trafen.

Im Vorfeld des Krieges ergriff der Bundesrat, trotz Diskussionen um die Versorgung, nur minimale Vorbereitungen und setzte lange auf die Kräfte des Marktes.

Das Jahr 1917 markierte dann eine Zäsur; es läutete in der Versorgungspolitik den Wechsel zum Paradigma der Staatsinterventionen ein. Ausgelöst wurde dieser durch politischen Druck, denn breite Teile der Bevölkerung litten unter den hohen Lebenskosten. Cottier zeichnet ein Bild von zahlreichen, unkoordinierten, «kleinen Schritten», mit der die liberale Wirtschaftsordnung «widerwillig und nur aus der Not zurückgedrängt » (74) worden sei.

Cottier betont den Einfluss der Weltwirtschaftskrise auf die spätere Versorgungspolitik. In dieser Zeit wurde eine interventionistische Wirtschaftspolitik formuliert, die im Kriegsfall weitreichende Eingriffe in die Wirtschaft und ins Privateigentum ermöglichte. Eine zentralisierte und umfassende Planung ermöglichte den fliessenden Übergang zwischen Krisen- und Kriegspolitik. Die meisten Strukturen der Kriegswirtschaft bestanden bereits vor Kriegsbeginn und das Massnahmeninstrumentarium war im Ersten Weltkrieg und in der Wirtschaftskrise erprobt und danach verbessert worden, so zum Beispiel die Lagerhaltung von Lebensmitteln und Rohstoffen.

Der Beginn des Kalten Krieges bedeutete eine anhaltende wirtschaftliche Kriegsund Krisenversorgung. Die getroffenen Massnahmen beruhten auf den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, indem am staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft und an den Pflichtlagern festgehalten wurde. Der Bundesrat setzte gar auf die gesetzliche Regelung einer eigenen Hochseeflotte.

In den 1970er-Jahren löste das neoliberale Wirtschaftsparadigma die Interventionspolitik allmählich ab. Missernten, Erdölabhängigkeit, machtpolitische Veränderungen oder Marktschwankungen zeigten sich für die Schweizer Wirtschaft ebenso schädlich wie kriegerische Auseinandersetzungen. Demgemäss umfassend wurde die Versorgungspolitik in den 1970er-Jahren gestaltet. Märkte und die private Wirtschaft standen fortan im Zentrum der Versorgungspolitik. Der Bund wollte nur noch subsidiär in die Wirtschaft eingreifen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stellte sich unter der Prämisse der neoliberalen Maxime die Frage nach der Ausrichtung und der Wirtschaftlichkeit der Landesversorgung. Daraufhin wurde das «Denken in Risiken» zu einer grundlegenden Strategie der staatlichen Versorgungspolitik erklärt, die Hochseeflotte und die Pflichtlager blieben jedoch bestehen.

Das Buch führt den Forschungsstand der Versorgungspolitik der Schweiz seit 1848 in einer spannend zu lesenden Geschichte zusammen. Es verdeutlicht, wie sich die Versorgungspolitik im Laufe der Zeit verändert und eine Vielzahl von nationalen und internationalen Faktoren umfasst, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Die Interpretation der Versorgung auf Bundesebene anhand der wirtschaftlichen Paradigmen bietet interessante Erklärungen und zeigt wichtige Strukturen auf. Die gewählte Schablone wirkt jedoch teilweise aufgesetzt, gewisse Aspekte kommen zu kurz und mehr Tiefe wäre wünschenswert gewesen. Beispielsweise erscheint in der Synthese die Gewichtung der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg für die weitere Ausgestaltung der Versorgungspolitik eher marginal. Zudem wäre ein Blick auf die Rollen der Kantone und Gemeinden im Bereich der Versorgung für das Gesamtverständnis wünschenswert gewesen.

Trotzdem ist das Buch sehr lesenswert und bietet sowohl Wissenschaftlern als auch einem breiten Publikum einen längst fälligen Überblick zur Versorgungspolitik der Schweiz. Noch bestehende Massnahmen aus früheren Krisen werden verständlich; gleichzeitig wird deutlich, welche Bedeutung die Erinnerung für die Vermeidung von künftigen Notständen haben kann.

Zitierweise:
Ismael Albertin: Rezension zu: Cottier, Maurice: Liberalismus oder Staatsintervention. Die Geschichte der Versorgungspolitik im Schweizer Bundesstaat. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2014. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 108-110.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 108-110.

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