H. Affolter u.a: Das tiefere Berner Mittelland

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Titel
Das tiefere Berner Mittelland. Das Gebiet zwischen Aarwangen und Laupen


Autor(en)
Affolter, Heinrich Christoph
Reihe
Die Bauernhäuser des Kantons Bern 3
Erschienen
Bern 2013: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Katrin Rieder, Bern

Im Sommer 2013 erschien – nach zwölfjähriger Arbeit – der dritte Band der Berner Bauernhausforschung. Die früheren Bände (Band 1: Das Berner Oberland, Band 2: Das höhere Berner Mittelland) wurden bereits 1990 und 2001 publiziert. Noch ausstehend ist der vierte Berner Band, zum Seeland und Berner Jura, der, falls im selben Rhythmus weitergearbeitet wird, vielleicht auf das Jahr 2025 erwartet werden darf. Insgesamt wird in den vier Bänden die Forschungsarbeit von fast einem halben Jahrhundert publiziert. Ein grosses Werk.

In den 1990er-Jahren hegte der vom Kanton Bern beauftragte Autor H.C. Affolter noch die Befürchtung, dass ihm bei gleichbleibendem Arbeitstempo (und ohne Aufstockung der personellen Ressourcen zur Beschleunigung des Prozesses) letztlich sein Forschungsgegenstand entschwinden würde: «Im tieferen Mittelland wird in zwanzig Jahren die ältere ländliche Bausubstanz derart reduziert sein, dass eine historisch und typologisch relevante Darstellung nicht mehr möglich sein wird.» Glücklicherweise haben sich seine Befürchtungen nicht bewahrheitet.

Der Band 3 in der Reihe Die Bauernhäuser des Kantons Bern behandelt das tiefere Berner Mittelland und damit insbesondere das Gebiet zwischen Aarwangen und Laupen. Aus architekturhistorischer Sicht ein grosser Gewinn ist die Detailanalyse der verschiedenen Bautypen der Region, ihrer Konstruktion und ihrer Nutzung im Laufe der letzten Jahrhunderte. Neben dem klassischen Bauernhaus und den zur Hofanlage gehörigen Kleinbauten wie Speicher, Stöckli oder Ofenhäuser erhalten in diesem Band zudem auch Wirtshäuser, Getreidemühlen und Käsereien vertiefte Darstellungen. Veranschaulicht werden die verschiedenen Dachformen, die vielfältigen Bauweisen, Fassaden und Lauben. Von grossem Interesse sind auch die Einblicke in die Geschichte des Bauhandwerks oder des Bauschmucks wie Türstürze, Ründiformen oder Malereien. In die Beschreibungen einzelner Bauten, Konstruktionsarten oder Bautypen flossen die neuesten Erkenntnisse der Bauernhausforschung ein.

Das Kapitel mit Monografien über einzelne Bauwerke gewährt einen tieferen Einblick in die Geschichte ausgewählter Höfe. Im Band 3 der Berner Reihe wird die Zeitlinie bis in die Gegenwart gezogen, auch Bauernhäuser der neueren Zeit werden porträtiert, etwa eines in Mülchi von 1945 oder ein anderes aus dem Jahr 1969 in Utzenstorf. Historisch eingebettet werden diese Beispiele neuerer Bauernhofarchitektur durch die ausführliche historisch-geografische Einleitung, welche der industriellen Agrarmodernisierung eine vergleichsweise ausführliche Darstellung widmet. Die zunehmend spezialisierte Landwirtschaft fordert Anpassungen bei der Bauweise von Wohn- und Nutzbauten. Der Bedarf an ebenen und grossflächigen Parzellen als Folge des Einsatzes agrarischer Grosstechnologie ebenso wie die einschneidenden landschaftlichen Veränderungen durch den Bau von Autobahnen und neuen Bahntrassees führen zu umfassenden Veränderungen von Nutzflächen und Siedlungsformen. Um bei alldem nicht die beiden vorangegangenen Sequenzen agrarischer Modernisierung, die organische und die mechanische Agrarmodernisierung, aus dem Auge zu verlieren, ist die Fallstudie zum Raum Kirchberg sehr dienlich und informativ. In dieser Region werden die Innovationen der Agrarpioniere von der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenso wirksam wie die späteren Güterzusammenlegungen, die das Potenzial der Region stärkten. Die günstige Verkehrslage zog früh Gewerbe und Manufakturen an, das Projekt des schweizerischen «Zentralflugplatzes» südlich von Utzenstorf in den 1940er-Jahren, der spätere Autobahnbau und der Bau der Bahn 2000 veränderten die Voraussetzungen für die dortige Landwirtschaft umfassend.

Der Hauptteil des Buches jedoch widmet sich den Gebäuden von Hof und Landgut, in dem Typologien von Vielzweckhäusern dargestellt sind und Gegensätze von Häusern der ländlichen Unterschicht und Wohnstöcken des ländlichen Bürgertums offensichtlich werden. Hier hätte der Band allenfalls noch einen Schritt weiter gehen können und einen Blick auch auf die Schlösser und Landsitze der sich als «Landwirte» oder «Gutsherren» verstehenden Berner Patrizierfamilien werfen und so die sozialhistorische Frage der Beziehungen zwischen Herrschaftsgeschlechtern und Landbevölkerung einschliessen können. Zumal das Gebiet dieses Bandes auch die Stadt Bern einschliesst, wäre es ausserordentlich interessant gewesen, eine inhaltliche Vertiefung zum Verhältnis von Stadt und Land vorzunehmen, welches die Landwirtschaft seit Jahrhunderten prägt.

Selten genug finden sich biografische Anmerkungen zu den Erbauern, zu den Handwerkern oder zu den Bewohnern und Bewirtschafterinnen der Gebäude. Aus meiner Sicht fehlen die Menschen: Die Gebäude wurden erstellt, um die Bedürfnisse ihrer Bewohner zu beantworten, die über die Jahrzehnte vielleicht lange gleich geblieben sein mochten, sich aber in den letzten Jahrzehnten auch gewandelt hatten. Ein biografischer, alltagskultureller Zugang als Ergänzung und Kontrastierung zum architektur- und wirtschaftshistorischen Zugang hätte dem Band (oder generell: dem gesamten Projekt) zusätzliche Farbe gegeben.

Etwas verwirrlich wird es, wenn im Kapitel zu den Siedlungsmonografien Orte und Gebäude dargestellt werden, und 300 Seiten später, im Kapitel der Hausmonografien, einzelne Gebäude aus denselben Ortschaften erneut aufgegriffen werden. Hier hätte eine Verschränkung resp. eine Zusammenführung der Lesefreundlichkeit gedient. Und um noch ein Detail anzumerken: Durch eine engere Verknüpfung von Text und Illustration könnte die Lesefreundlichkeit ebenfalls erhöht werden; ich vermisste die Nennung der Nummern im Text als Verweis auf die Illustrationen. Die wenigsten Leser und Leserinnen werden das Buch von vorne bis hinten linear durcharbeiten. Vielmehr werden sie, inspiriert durch die zahlreichen Grafiken und wunderbaren Fotografien, durch den Band blättern und dann ausgehend von Bildern sich in die dazugehörige Darstellung vertiefen.

Ganz grundsätzlich gilt es, die Frage aufzuwerfen, wer sich denn diese schweren Bücher kauft, wer sie liest und wer sich den Überblick über die weitgehenden und umfassenden Erkenntnisse verschaffen wird? Die mittlerweile mehr als 30 Bände der Schweizer Bauernhausforschung, entstanden in dem seit 1944 dauernden Projekt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, stehen nebeneinander in Lagern von Bibliotheken und in Bücherregalen von Fachstellen. Vielleicht kaufen sich Privatpersonen oder Fachleute einzelne Bände zu einzelnen Regionen? Das wäre dieser grossen Arbeit sicherlich zu wünschen: ein breites Echo. Doch selbst schon die Ausleihe aus der Bibliothek stellt einen vor ein grösseres Problem: Als ich Band 1 und 2 abholte, ist mir unterwegs die Tasche gerissen – zum guten Glück haben die schönen Bände keinen Schaden genommen.

Das gesamte Forschungsprojekt ist eine Parforceleistung ohnegleichen. In Bälde wird das gross und langfristig angelegte Forschungsprojekt abgeschlossen sein, noch ausstehend sind neben dem vierten Berner Band einzig noch diejenigen der Kantone Solothurn und St. Gallen. Zukünftig wird die Herausforderung nicht – wie häufig bei solchen flächendeckenden Forschungen – die Aktualisierung sein: Die Entwicklung der Architektur von Bauernhäusern rennt nicht im Eiltempo voran und es droht nicht die Gefahr, dass die Forschungsresultate bald überholt und damit obsolet sein werden. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, die sowohl detailreichen als auch schweizweit in grosser Tiefenschärfe erarbeiteten Erkenntnisse einer breiteren Leserschaft zu vermitteln. Es wäre ungemein schade, wenn diese zwischen Buchdeckeln eingeklemmt auf den Bücherregalen verstauben würden. Hier liegt, nach Abschluss der Forschungsarbeiten, die nächste Aufgabe der «Aktion Bauernhausforschung in der Schweiz»: die zeitgemässe Vermittlung an ein breites, interessiertes Publikum.

Zitierweise:
Katrin Rieder: Rezension zu: Affolter, Heinrich Christoph: Die Bauernhäuser des Kantons Bern. Band 3: Das tiefere Berner Mittelland. Das Gebiet zwischen Aarwangen und Laupen. Mit Beiträgen von Christian Pfister (historisch-geografische Einleitung), Peter Bannwart, Barbara Imboden, Christian Renfer, Elisabeth Schneeberger, Ursula Schneeberger. Bern: Stämpfli 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 102-104.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 1, 2016, S. 102-104.

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