Cover
Titel
Die Alpen. Raum – Kultur – Geschichte


Autor(en)
Mathieu, Jon
Erschienen
Stuttgart 2015: Reclam
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
EUR 38,80
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Beat Bächi, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Es macht Freude, Jon Mathieus Alpenbuch in die Hände zu nehmen. Das schön gestaltete und reich illustrierte Buch setzt mit seiner eigenen, ironisch anmutenden Entstehungsgeschichte ein. Am selben Tag wie die Süddeutsche Zeitung titelte „An Alpenbüchern herrscht kein Mangel“, wurde Mathieu vom Reclam Verlag angefragt, ob er eine Geschichte der Alpen für ein fachlich nicht vorgebildetes Publikum schreiben wolle. Und so machte sich Mathieu daran, die erste „überblicksartige, gleichsam von Hannibal bis in die Gegenwart reichende Geschichte des ganzen Alpenraums“ (S. 13) zu konzipieren. Der auf diesem Gebiet äußerst bewanderte Mathieu, der unter anderem Gründungsdirektor des „Istituto di Storia delle Alpi“ war und bereits eine Geschichte der Berge in der Neuzeit vorgelegt hat, konnte dabei auf umfassende historische Vorarbeiten zurückgreifen, jedoch nicht auf eine aus einer Hand verfasste Überblicksdarstellung. Den methodischen Rahmen seines Unternehmens skizziert Mathieu folgendermaßen: „Es ist ein geschichtswissenschaftliches Buch, das heißt, sein Ausgangspunkt sind die Menschen und menschlichen Gesellschaften in ihrer zeitlichen Existenz und ihrem zeitlichen Nacheinander.“ (S. 13f.) Damit unterscheide es sich – trotz eines interdisziplinären Einschlags – von Alpenstudien der Geographie und auch der Anthropologie.

Wie ein roter Faden zieht sich die Frage durch Mathieus Buch, ob die von Fernand Braudel aufgeworfene These, bei den Alpen handle es sich um „une montagne exceptionnelle“ (S. 14), zutreffend sei. Dennoch handelt es sich bei Mathieus Buch explizit nicht um eine „histoire totale“, sondern um die Darstellung ausgewählter Aspekte. Den Forschungsstand integriert Mathieu gleichsam „en passant“ in seine Arbeit und weist ihn lediglich im Anhang explizit aus. Angesichts der gestellten Aufgabe ist dies nicht nur legitim, sondern es verleiht dem Buch auch eine leichtere Lesbarkeit und ermöglicht es der geneigten Leserin dennoch, sich über spezifische Themenfelder der Historiographie der Alpen umfassend zu informieren.

Die ersten Kapitel des Buches handeln von den allgemeinen Bedingungen der Geschichte der Alpen. Obwohl der alpine Raum in der Bronzezeit dichter besiedelt war und sich während der Eiszeit der Kontakt mit mediterranen Hochkulturen intensivierte, scheint die alpine Landschaft sehr lange ein mosaikartiges Aussehen behalten zu haben; neben kultivierten und beweideten Stellen gab es viele bewaldete und kaum genutzte Gebiete. Als Zäsur sieht Mathieu das starke Bevölkerungswachstum im 12. und 13. Jahrhundert. Dadurch verwandelte sich die halboffene Landschaft in eine Kulturlandschaft, wobei auch die städtischen Zentren im Alpenraum wuchsen. Im 16. Jahrhundert begannen sich die territorialstaatlichen Institutionen zu verfestigen und mit der Glaubensspaltung wurden die Alpen zu einer konfessionellen Grenzzone. Die Bildung der Nationalstaaten machte die Alpen im 18. und 19. Jahrhundert dann auch zu einer politischen Grenzzone.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts eröffneten die Alpen der Reisekultur der europäischen Eliten Möglichkeiten für neue Naturerlebnisse. Nachdem Naturforscher diesen Wahrnehmungswandel vorbereitet hatten, bürgerte sich für die immer zahlreicheren Reisenden um 1800 der Ausdruck „Touristen“ ein, und seit den 1870er Jahren unterschied man zudem die berggewandten „Alpinisten“. Zugleich wurden die Alpen durch die Vervielfachung von einschlägigen Texten auch zu einer literarischen Landschaft. Später gab die europäische Einigungsbewegung einem modernen Regionalismus Auftrieb, der eine ökologische Richtung einschlug. Dieser vielschichtige Wandel kulminierte in der zwischenstaatlichen Alpenkonvention von 1991, welche dem Alpenraum erstmals politische Konturen verlieh. Neu war dabei auch die Vorstellung, dass nicht mehr nur einzelne Ausschnitte der Natur (wie Parkgebiete oder Pflanzenarten) unter Schutz gestellt werden sollten, sondern dass der Alpenraum eines integralen Schutzes bedürfe.

Besonders gelungen sind die Widersprüchlichkeiten, die Mathieu immer wieder stark macht. Er nimmt die Differenzen ernst und geht mit Generalisierungen über den gesamten Alpenraum vorsichtig um. So gelingt es Mathieu, die großen Linien der Geschichte des Alpenraums herauszuarbeiten, ohne einer eindimensionalen Modernisierungs- oder Fortschrittslogik zu verfallen. Geschickt bezieht Mathieu immer wieder dichotome Betrachtungsweisen aufeinander, um sie dann von ihren Eindeutigkeiten zu befreien. So wurden die Alpen sowohl als Mauern oder Barrieren gesehen wie auch als Brücke der Kulturen und als Durchgangsraum. Sie waren sowohl Bindeglied als auch Kontaktzonen und Knotenpunkte, wodurch die Mauer- und Grenzfunktion relativiert wird. Und auch die „Modernität“ ist mehrdeutig und nicht genau lokalisierbar, sondern vielmehr das Produkt einer gesellschaftlichen Zuschreibung. In dieser Perspektive spricht vieles dafür, dass es sich beim Übergang von den Saumwegen zu den Fahrstrassen und Eisenbahnlinien nicht einfach um eine Verbesserung handelt, sondern dass die Topographie des Alpenraums im Laufe der Verkehrserneuerung zunehmend zu einem Handicap wurde und dass die aufwendigen Infrastrukturen des modernen Verkehrs die Differenz zum flachen Alpenumland noch in erheblichem Maße vergrößerten.

Auch die Frage, ob die Alpen nun ein Kultur- oder Naturraum sind, wird durch eine relationale Betrachtungsweise fruchtbar gemacht. Denn „Natur“ und „Kultur“ sind interdependente, zeitgebundene Begriffe. Zudem waren die außer- und inneralpinen Rollen keineswegs scharf getrennt; und so mögen die Alpen von außen eher als Naturraum erscheinen, hingegen von innen eher als Kultur- und Lebensraum.

Beispielsweise im Bereich des elektrischen Lichts bot der alpine Raum Platz für Neuerungen und Avantgarden. Als Erfahrungsraum und „natürliches Laboratorium“ war der Alpenraum im 18. und 19. Jahrhundert auch für die Entwicklung der Naturforschung zentral, weil er nahe an den Zentren des wissenschaftlichen Aufbruchs lag und spezifische Umweltbedingungen aufwies. Neben der Professionalisierung und Spezialisierung führte dies auch zu einer Vertiefung und Auffächerung des Wissens beispielsweise in die Pflanzengeographie, Geologie, Glaziologie, Geophysik, Hydrologie, Höhenmedizin, Klimatologie und Geomorphologie. Mit der Verwissenschaftlichung veränderten sich auch die Alpen selbst und es wurde versucht, mehr Eindeutigkeit beispielsweise hinsichtlich der „Höhe“ der Berge zu erzeugen.

Im Gegensatz zu den Naturforschern sahen die Historiker lange wenig Anlass, die Alpen in ihrer Gesamtheit zu thematisieren. Erst im späteren 19. Jahrhundert schossen in allen Ländern des Alpenraums historische Vereine wie Pilze aus dem Boden. Eine Ausnahme bildete hier – wie an anderen Stellen des Buches – die Schweiz. Dort hatten die Alpen seit dem 18. Jahrhundert eine geradezu mythische, staatstragende Rolle. Entgegen dieser oftmals nationalistisch verbrämten Geschichtsschreibung bringt Mathieu die Wahrnehmungs- und Erinnerungsgeschichte in Stellung. Entsprechend unterscheidet er nicht zwischen der „alten“ und der „modernen“ Wahrnehmung, sondern beharrt auf der Komplexität der Wahrnehmungsgeschichte und zeichnet ein farbiges Gemälde der Vielfalt von Stimmen und Lektüren. Zur Illustration dieser sich wandelnden Wahrnehmungen findet sich im Buch auch ein Tafelteil mit Beispielen aus Malerei und Gebrauchskunst vom 14. bis 20. Jahrhundert.

In dieser Perspektive erscheinen auch die alpinen Bauern nicht so archaisch, wie man sie als Kontrast zur Moderne oft gern gesehen hätte und immer noch sehen möchte. Infolge des bewegten und abschüssigen Terrains blieb die Mechanisierung der Landwirtschaft in den Alpen allerdings lange auf bescheidenem Niveau. Aber auch in diesem Fall führte die Entwicklung nicht zur „Naturbeherrschung“, sondern fast mehr noch zu einer zunehmenden Umweltabhängigkeit der Gesellschaft. Ja man kann sogar sagen, dass die schnell voranschreitende Mechanisierung ein Hauptgrund für die starke Differenzierung zwischen dem eigentlichen Berggebiet und den flachen Talböden war.

Wie stellt sich Mathieu schließlich zur eingangs erwähnten These von Fernand Braudel hinsichtlich der Außergewöhnlichkeit der Alpen? Für Mathieu ist diese These historisch zu verstehen: Vor dem hoch- und spätmittelalterlichen Wandel seien die Alpen wohl kaum aus dem Rahmen gefallen, gerade auch im Vergleich mit den Gebirgen rund ums Mittelmeer. Im 16. Jahrhundert seien sie hingegen bereits seit geraumer Zeit auf dem Weg eines überdurchschnittlichen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums gewesen. Es stelle sich aber vor allem auch die Frage, ob Braudels Kriterien – Ressourcen, kollektive Aufgaben und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung – in vergleichender Sicht wirklich angemessen und mit Blick auf die Besonderheit zielführend seien. Mathieu spricht sich dahingehend aus, dass gerade der Aspekt der Wahrnehmung stärker berücksichtigt werden müsse. Denn dadurch werde sichtbar, dass die Außergewöhnlichkeit der Alpen viel mit der Außergewöhnlichkeit ihres Umlandes zu tun hatte; dort sei die Nachfrage nach Natur entstanden und dorthin hätten die Alpenstraßen geführt. Unter dem Strich führt diese Kontextualisierung Mathieu von einer Vergleichs- zu einer Verflechtungsgeschichte.

Am Ende von Jon Mathieus Alpenbuch muss offen bleiben, ob die Geschichte tatsächlich bloß „die Menschen und menschlichen Gesellschaften in ihrer zeitlichen Existenz und ihrem zeitlichen Nacheinander“ umfasst. Das Potential der Berücksichtigung der Eigenmächtigkeiten von Eis, Steinen, Pflanzen und Tieren schimmert jedenfalls insbesondere in den Geschichten von Wölfen (S. 204) und Gletschern (S. 214) durch. Gerade die Pluralität der Zugangsweisen macht dieses Buch – auch ohne methodische Grundsatzdiskussionen – neben einem breiteren Publikum auch für Historiker/innen äußerst lesenswert.

Redaktion
Veröffentlicht am
13.01.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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