T. Sprecher: Karl Schmid (1907–1974)

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Titel
Karl Schmid (1907–1974).


Autor(en)
Sprecher, Thomas
Erschienen
Zürich 2014: NZZ Libro
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Es entsprach Karl Schmids depressivem und auffallend selbstbezogenem Charakterzug, wenn der stark auch nach aussen orientierte, erfolgreiche und entsprechend angesehene Germanist gegenüber seiner Gattin die Meinung äusserte, dass zwei Jahre «nach meinem Abgang» kein Hahn mehr «nach mir» krähen werde. Das Gegenteil trat ein: 18 Jahre nach Schmids Tod wurde eine ihm gewidmete Stiftung gegründet und zwei Jahre später (1984) eine Strasse neben dem Hauptgebäude der Universität Zürich nach ihm benannt: Bereits 1983 stand ein ausführliches Verzeichnis zu dem im Archiv für Zeitgeschichte aufbewahrten Nachlass zur Verfügung, «sedimentiert» in 1600 Dossiers. Schmid führte zeitweise Tagebuch, erhalten geblieben sind aber nur Teile von Notizen (Carnets); er korrespondierte ausgiebig, verfasste aber keine Lebenserinnerungen. Die Stiftung veranlasste die Herausgabe ausgewählter Schriften (6 Bände, 1998) und ausgewählter Briefe (2 Bände, 2000). Zum 100. Geburtstag gab es eine Ausstellung und einen Aufsatzband. Und nun?

Nun liegt eine von der genannten Stiftung in Auftrag gegebene gegen 500 Seiten umfassende Biographie vor, die der doppelt qualifizierte Dr. iur. Und Dr. phil. Thomas Sprecher, bekannt auch als Leiter des Thomas Mann-Archivs, verfasst hat. Auf die interessante Frage nach Schmids ausserordentlichem Nachruhm gibt die Biographie keine Erklärung. Sie leistet jedoch zweierlei: Einerseits rekapituliert sie Schmids öffentliches Schaffen und im Falle der bekanntesten Schrift «Unbehagen im Kleinstaat» auch deren Rezeption. Andererseits gibt sie einen Einblick in die bisher weniger bekannte Welt der Privatperson.

Die Ausführungen folgen in Kleinstkapiteln, die im steten Wechsel das Private und Öffentliche ansprechen, einem chronologischen Ablauf: So folgt auf die erste Begegnung mit seiner künftigen Frau Elsie Attenhofer vom Cabaret Cornichon ein Abschnitt über die Geistige Landesverteidigung, dann wiederum ein Abschnitt zu den «ersten Ausflügen» mit Elsie, dann ein Abschnitt zu Schmids Radiovorträgen usw.

Dem Autor ist es, wie der Untertitel des Buches zeigt, wichtig, Schmid als exemplarischen Citoyen, das heisst am Gemeinwesen aktiv teilhabenden Staatsbürger, zu würdigen. Der hauptberufliche Germanist war im Laufe seines Lebens auch Rektor der ETH, Generalstabsoberst, Präsident des Wissenschaftsrats, Präsident der Schweizerischen Auslandhilfe, Bildungsreformer und vieles mehr. Das könnte man auch in einem Lexikonartikel nachlesen. Nicht nachlesen könnte man dort hingegen, was dem Biographierten das bedeutet hat und welche Möglichkeiten er nicht wahrgenommen hat. Der «nur» an der Freifächerabteilung der ETH angesiedelte Professor hat zweimal Ordinariatsrufe nach Bern und Lausanne abgelehnt. Desgleichen ein Divisionskommando, eine aussichtsreiche Einsitznahme in den Ständerat als Vertreter der Zürcher Freisinnigen, eine ehrenvolle Mitgliedschaft als «Zeufter» usw. Der als Milizsoldat geleistete Militärdienst war ihm wichtig, davon zeugen die über 2300 Diensttage, die ausserdienstliche Heimarbeit für die Armee nicht eingerechnet. Im Aktivdienst, den er als Artillerist vor allem am Gotthard verbrachte, engagierte er sich zusätzlich in der Abteilung «Heer und Haus», der Historiker Karl Meyer war ihm Vorbild. Schmid sah sein Metier im schreibenden und referierenden Vermitteln, wobei er offenbar kein Schnelldenker war. Seine «aus dem Geiste der Langsamkeit und Genauigkeit» erzeugten Einsichten musste er sich abringen; andere, zum Beispiel Adolf Muschg, kamen ihm schnell oberflächlich vor.

An dieser Vita können vor allem zwei Aspekte besonders interessieren: Karl Schmids Selbsteinordnung in das politische Spannungsfeld der Zeit und, damit verbunden, seine Einstellung zum gesellschaftlichen Wandel, den er als engagierter Zeitgenosse erlebte. Schmid nahm eine interessante Position zwischen Reformbereitschaft und konservativem Beharren ein. Der Germanistenkollege Fritz Ernst warf ihm 1957 vor, gegenüber dem Mythos Schweiz eine zu skeptische Haltung einzunehmen; andererseits warf ihm Max Frisch in seiner bekannten Schillerpreisrede (1974) vor, ein Kleinstaatennostalgiker zu sein. Schmid war nur bedingt ein Verteidiger des traditionellen Bürgertums. Entsprechend schwierig war, wie im Falle Jean-Rodolphe von Salis’, das Verhältnis zur «Neuen Zürcher Zeitung»; 1968 bemerkte er, dass er von ihr wenig beachtet werde und nicht zu den «Feinen und Gediegenen» des Zürichbergs passe, zwei Jahre später wurde er aber Mitglied des Verwaltungsrats der NZZ. Der Uni-Germanist Emil Staiger genoss im Zürcher Hauptblatt mehr Anerkennung. Schmid wiederum lehnte Staigers «ominöse» Literaturpreisrede von 1966 ab, jedoch nicht öffentlich, sondern nur in privaten Schreiben. Die 1960er Jahre entwickelten sich so, dass der Citoyen Schmid mehr und mehr gleichsam aus der Zeit herausfiel beziehungsweise von ihr zurückgelassen wurde. Selber ein Bedächtiger, rief er im Expo-Jahr 1964 die «bedächtigen Alten» auf, sich mit den «mutigen Jungen» auseinanderzusetzen. Und selbst in der geistigen Alpenfestung zu Hause, warnte er vor einem kulturellen Reduit; es gehe nicht an, «die geistigen Güter der Schweiz durch Cellophanpackung gegen fremde Bakterien» schützen zu wollen. In der Europafrage wäre er gerne offener gewesen, als ihm gelang: Er kritisierte – wie andere – das Vergemeinschaftungsprojekt als «geschichtslos und rationalistisch», als zu wenig «beseelt». 1966 räumte er ein, dass er nur ein Normalschweizer sei und darum die europäische Integration als «Hirngespinst und Phantom» angesehen habe. In den folgenden Jahren distanzierte er sich noch mehr von der anfänglichen Skepsis (und Distanzierung) und erklärte, dass doch auch der schweizerische Bund nur ein Konstrukt sei und dass man generell machen könne, dass etwas werde.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Thomas Sprecher, Karl Schmid (1907–1974). Ein Schweizer Citoyen, Zürich: NZZ-Libro, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 345-347.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 345-347.

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