Seit dem Jahre 1973 erscheinen die Bände des Heinrich-Bullinger-Briefwechsels, der einer der bedeutendsten und vielfältigsten Quellen für die Geistes-, Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des 16. Jahrhunderts darstellt. So umfasst doch der noch erhaltene Briefwechsel Heinrich Bullingers rund 12 000 Briefe, übertrifft also Philipp Melanchthon mit einer Korrespondenz von 10 000 Briefen bei weitem. Das monumentale Editionsprojekt wird vom Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte an der Universität Zürich verantwortet und vom Schweizerischen Nationalfonds sowie von der Zürcher Landeskirche finanziert.
Der 15. Band des Heinrich-Bullinger-Briefwechsels übertrifft die vorangehenden Bände ein weiteres Mal, einerseits vom Umfang, andererseits von der qualitativen Gestaltung her. Während die Bände bis zum Jahr 1543 die historischkritische Edition von 100 bis 200 Briefen pro Jahr umfassten, beinhaltet der Band zu den Briefen des Jahres 1544 bereits 227 Briefe und derjenige zum Jahre 1545 gar deren 259. Dabei ist es augenfällig, dass manche Briefe von überdurchschnittlichem Umfange sind, so dass die Bearbeitungszeit weit aufwendiger war. Dazu kommt eine qualitative Veränderung gegenüber allen früheren Bänden: Um die Briefe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wird ihr Inhalt erstmals nicht mehr in regestartiger Weise, sondern anhand von ausführlichen Zusammenfassungen dargestellt. Dies soll vor allem dem Umstand Rechnung tragen, dass heutzutage nur noch wenige Benutzer die Möglichkeit haben, lateinische und frühneuhochdeutsche Quellen zu lesen. Der Anmerkungsapparat orientiert sich an den bisherigen Gepflogenheiten; geboten wird einerseits ein Apparat mit sprachlichen, textkritischen und editorischen Hinweisen, andererseits der zweite Apparat mit den zum Textverständnis notwendigen Angaben sowie weiterführenden Literaturhinweisen.
Von den 259 Briefen des Jahres 1545 werden deren 42 nur anhand einer Zusammenfassung dargeboten, da sie in gut zugänglichen Quellen und in ausreichender Qualität bereits ediert worden sind. Insgsamt wurden 68 Briefe in Zürich verfasst, sind also von Bullinger selbst, und 191 Briefe wurden nach Zürich geschickt, wobei 81 Briefe aus Deutschland, 84 aus der Eidgenossenschaft stammen. Weiter kamen Briefe aus Frankreich, den Drei Bünden und ihren Untertanenlanden, Holland, Mähren, Italien usw. Beherrscht wird der Briefwechsel des Jahres 1545 – insgesamt sind 80 Korrespondenten in den Briefwechsel mit Bullinger involviert – von Ambrosius Blarer (Konstanz), Johannes Gast (Basel), Oswald Myconius (Basel) und Joachim Vadian (St. Gallen). Bemerkenswert ist es aber, dass 28 neue Korrespondenten auftauchen. Dies ist sehr wohl auch ein Hinweis darauf, inwiefern Bullinger seit dem Erscheinen des Wahrhafften Bekanntnuß der dieneren de kilchen zů Zürych (1545) die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Manche der neuen Briefschreiber sollten später zu besonders wichtigen Korrespondenten werden. Es ist dabei speziell hinzuweisen auf den Berner Johannes Haller, auf Johannes Schmid von Bergheim alias Fabricius Montanus, der später in Chur Antistes war, auf Georg Frölich aus Thüringen und schliesslich auf Agostino Mainardo, der als Pfarrer von Chiavenna zum treuen Berichterstatter über die Reformation südlich der Alpen wurde.
Von den 259 Briefen erscheinen deren 149 im vorliegenden Band erstmals in Druck, d.h. dass sie grösstenteils unbekannt bzw. kaum zugänglich waren. So offenbart der Briefwechsel in verschiedenen Bereichen neue Einzelheiten und Erkenntnisse. Er erlaubt beispielsweise differenziertere Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Zürich und Basel – sind doch 44 Briefe in Basel abgefasst. Verständlich, dass die bislang ungedruckte Korrespondenz Bullingers mit dem Basler Antistes Oswald Myconius (15 Briefe) und Diakon Johannes Gast (20 Briefe) ganz neue Details zur Amtsenthebung Gasts im Jahre 1545 offenbart. Aber auch der vor mehr als 100 Jahren von Emil Arbenz herausgegebene Vadian-Briefwechsel erfährt durch den neuen Band Bereicherung. So wird ein Brief Vadians an Bullinger (Nr. 2288) – das Autograph liegt in Breslau – gedruckt, der bislang nicht nur ungedruckt, sondern auch unbekannt war. Das Beispiel illustriert, dass sich die unermüdliche und hartnäckige Detektivarbeit ehemaliger und jetziger Mitarbeiter des Heinrich-Bullinger-Briefwechsels als äusserst verdienstvoll erweist. Das sehr ausführliche, aber ungemein hilfreich gestaltete Register weist in dieselbe Richtung: Unter den einzelnen Personen und Ortschaften finden sich gewissermassen neue kleine Register, so dass beispielsweise die Bezugnahme auf eine Schrift von Johannes Cochläus, die Erwähnung der Gattin Gwalthers, die Berufung auf den Reichstag von Regensburg oder ein Hinweis auf die Wittenberger Konkordie leicht auffindbar sind. Dieses Register steigert den Wert des Bandes in nennenswerter Weise – verschafft es doch den Zugang zu den vielen bislang unbekannten und verborgenen Schätzen. So erfahren wir von bislang kaum bekannten Flugschriften zum Kölner Reformationsversuch (Nr. 2149), von Biblianders Überlegungen, Zürich zu verlassen (Nr. 2189), oder von dem genauen Erscheinungsdatum von Calvins in Strassburg bei Wendelin Rihel gedrucktem lateinischen Katechismus (Nr. 2231).
Es liegt in der Natur der Sache, dass im Rahmen einer Rezension der Wert einer solchen Editionsarbeit nicht angemessen gewürdigt werden kann. Offenbart doch jeder aller edierten Briefe eine «eigene Welt», in der sich eine Fülle von Informationen, Ereignissen und Absichten verdichten. Umso verdienstvoller ist es da, dass der Hauptbearbeiter Reinhard Bodenmann eine sehr umfangreiche Einleitung, in der auch ein thematischer Überblick der in dem Band angesprochenen Fragen gegeben wird, verfasst hat (S. 15–41), dank der es jedem geneigten Leser gelingt, in die faszinierende und unbekannte Welt der neuedierten Briefe einzutauchen. Es kann darum nur ermutigt werden, die vielen Schätze des neuen Bandes des Heinrich-Bullinger-Briefwechsels selbst zu entdecken.
Zitierweise:
Jan-Andrea Bernhard: Rezension zu: Heinrich Bullingers Briefwechsel, Bd. 15: Briefe des Jahres 1545, bearbeitet von Reinhard Bodenmann, Alexandra Kess und Judith Steiniger, Zürich: TVZ-Verlag, 2013, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=22726. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 334-335.