K. Stamm: Minister Walter Stucki 1888–1963

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Titel
Der grosse Stucki. Eine schweizerische Karriere von weltmännischem Format, Minister Walter Stucki 1888–1963


Autor(en)
Stamm, Konrad
Erschienen
Zürich 2013: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Konrad Stamm würdigt mit diesem Buch die herausragende Lebensleistung des Berner Wirtschaftsdiplomaten Walter Stucki, damit dieser seinen «verdienten Platz in der Geschichte» erhalte und etwas Überfälliges nachgeholt werde (S. 376). Stucki wurde 1917 mit nur 29 Jahren von Bundesrat Schulthess in den Bundesdienst geholt und sogleich Generalsekretär des Volkswirtschaftsdepartements. 1925 wurde er nach einem kurzen Intermezzo in der Privatwirtschaft Direktor der Handelsabteilung. 1934–1940 war er, der oft als «achter Bundesrat» bezeichnet wurde, wiederholt als künftiges Mitglied der Landesregierung im Gespräch. 1944 war dies dann, als Pilet-Golaz ersetzt werden musste, aber auffallend nicht mehr der Fall. 1938–1944 war er als Botschafter in Paris und Vichy fern von der Schweiz und durch seinen nahen Umgang mit Pétain kompromittiert. Gemäss Stamm hatte Stucki bei Kriegsende seinen Karrierezenit überschritten (S. 17, 319, 340). 1946 erzielte er als Chefunterhändler in Washington im Streit um die deutschen Vermögenswerte und das Nazi-Gold nochmals einen Verhandlungserfolg, dieser wurde zu Hause offiziell zwar anerkannt, von manchen jedoch nur wenig gewürdigt (S. 15, 331).

Stucki war – wie sein Biograph – Berner und wurde als solcher auch – stereotypisierend – als «Dickschädel» charakterisiert (S. 220). Der junge Stucki wollte nicht nur aus familiären Rücksichten die aus Zürich ihm angebotene Direktion des Vororts (heute «économie suisse») nicht annehmen (S. 52). Er war stolz auf sein Bernertum (S. 129, 143, 220) und wollte nicht nur aus Respekt vor der Verfassung auch dann seine Kantonszugehörigkeit nicht aufgeben, als ihm z. B. das Bürgerrecht von Rorschach angeboten wurde, damit er neben dem Berner Minger in den Bundesrat hätte einziehen können (S. 95).

Wer jetzt Auskünfte zu dem Mann sucht, der ein Leben lang angeblich eher widerwillig, aber mit grossem Erfolg vor allem als Gestalter der Wirtschaftsaussenbeziehungen der Eidgenossenschaft tätig war, dem steht nun eine detailreiche und den Biographierten plastisch wiedergebende Darstellung zur Verfügung. Dabei werden nicht nur die Stärken und Erfolge, sondern auch die Schwächen und Niederlagen sichtbar gemacht. Die bis anhin weniger offensichtlichen Seiten des Prominenten kann der Autor aufgrund von erstmals ausgewerteten Tage buchaufzeichnungen und der zahlreichen Briefe aufzeigen. Da Stuckis diplomatische Berichte bereits von Edgar Bonjour ausgewertet worden sind, verzichtet Stamm darauf, diese in seine Darstellung nochmals einzubeziehen. Die Umschreibung der Wirtschaftsverhandlungen als zentrale Leistung bleibt zwangsläufig etwas allgemein, weil sich diese unter anderem auch wegen ihrer Komplexität schwer vermitteln lassen.

Das wenig deklarierte Hauptthema dreht sich um die Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten eine Person mit ausserordentlichen Fähigkeiten in einem ordentlichen Regierungsapparat hat und wie die Umgebung mit dieser Herausforderung zurechtkommt. In späteren Jahren erklärte der Chefbeamte Stucki, er sei zu alt, um nur die «zweite Geige» zu spielen (S. 219). Eine bloss sekundäre Rolle wollte er aber schon früher nicht spielen. Nur widerwillig nahm er die Unterstellung unter einen Departementschef hin, sprach wiederholt den Wunsch aus, als vorgesetzte Stelle einzig den Gesamtbundesrat haben zu wollen, dies nach dem Motto, dass sieben Herren keine Herren seien (S. 109, 323, 363). Bezeichnend auch das Bonmot, dass es für ihn eigentlich keine Rolle spiele, wer unter ihm Bundesrat und Aussenminister sei (S. 270), oder, dass er erklärt haben soll, in einem solchen Gremium sicher nicht der Achte zu sein (S. 65). Eindrücklich, wie «le grand Stucki» 1945 versuchte, im Aussenministerium mit dezidiertem Auftreten das Terrain zu besetzen, dann aber von dem erst ein paar Wochen später eintretenden Bundesrat Max Petitpierre («le petit Pierre») sanft an seinen Platz zurückgeschoben wurde (S. 322).

1935–1937 versuchte sich Stucki als Parlamentarier. Stamm bemerkt dazu zutreffend, dass Stuckis Format nicht ins Muster dieser Versammlung von Volksund Interessenvertretern passte: «Stucki vertrat niemanden ausser sich selbst» (S. 131). Das in seinem Büro angebrachte Motto: «Erfüll all’ Tage Deine Pflicht …» nahm er sicher sehr ernst, aber er war es, der definierte, worin seine Pflicht bestand (S. 72). Stucki sprach verklausuliert auch von sich selbst, als er in den frühen 1950er Jahren mit Verweis auf Bubenberg und Waldmann in öffentlichen Vorträgen erklärte, dass man in der Schweiz die über das Mittelmass hinauswachsenden grossen Männer auf den Durchschnitt zurückstutze. Durchaus nachvollziehbar ist, wenn Stamm von seinem Helden sagt, dass er «autoritäre Allüren» hatte (S. 385). Das passt jedoch nur schwer zur Auffassung, dass Stucki ein guter Demokrat gewesen sei. Aber er war es – in gewisser Hinsicht: In den polarisierten 1930er Jahren vertrat er ganz entschieden die Meinung, dass alle demokratisch gesinnten Kräfte nicht nur im Parlament, sondern auch in der Regierung vertreten sein sollten. Das bewies er mit seiner Aufsehen erregenden Rede von Luzern 1937 (vgl. dazu die SZG Vol. 63, 2013, Nr. 1, S. 19–47.). Zugleich hatte er Sympathien für autoritäre Regimes. Ein Hinweis in dieser Richtung ist seine 1. August-Rede von 1936, in der er die Rettung eines in Seenot geratenen Schiffs darin sah, dass die Mannschaft einem Kapitän den Auftrag erteile, Ordnung und Disziplin herzustellen (S. 115).

Stucki, von seinem Biographen bereits im Buchtitel als «weltmännisch» bezeichnet, war in der Aussenpolitik und in der diplomatischen Welt offensichtlich besser aufgehoben. Stamm nimmt aber – ohne direkten Rückgriff auf Stucki-Formulierungen – eine etwas einseitige Einschätzung vor, wenn er von der Innenpolitik ohne Anführungszeichen von «Niederungen» oder gar von «Waschküche» spricht (S. 89, 103, 135). Das Weltmännische kommt dann vor allem in Tafelord nungen, alten Weinen, klassischen Möblierungen, Diplomatenwagen, chiffrierten Telegrammen, Bridge und Golf u.a.m. zum Ausdruck.

In Stamms Darstellung fällt auf, dass zwei wichtige Bereiche nur schwach beleuchtet werden: Stuckis Verhältnis zu den Mächten und Stuckis Verhältnis zur Privatwirtschaft. Seine entgegenkommende Haltung gegenüber dem faschistischen
Italien erscheint als realpolitisch und als Rücksicht auf die schweizerische Beschäftigungslage. Seine schroffe Haltung gegenüber der Sowjetunion wird nicht weiter kommentiert, obwohl Stucki auch hier – wie andere Freisinnige, etwa Bundesrat Schulthess – am sowjetischen Markt hätte interessiert sein können und, wie die Schwierigkeiten von 1944 bei den Normalisierung der Beziehungen mit der UdSSR zeigten, auch da Realpolitik gefragt gewesen wäre. Stucki war ganz auf der Motta-Linie, d.h. gegen die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund und für deren internationale Isolierung (S. 85, 157). Wie er sich 1944/45 zur Anerkennung der UdSSR stellte, wird nicht dargelegt, hier heisst es bloss, Pilet-Golaz habe diese «aus ideologischen Gründen hintertrieben» (S. 275). Dagegen erfahren wir, dass Stucki stolz war, nur einmal (1953) Gast der sowjetischen Botschaft gewesen zu sein (S. 361). Klärende Überlegungen zur Frage, was pragmatisch oder realpolitisch und was nur politisch oder ideologisch war, hätte auch zu einer adäquateren Erfassung von Marschall Pétain geführt. Stuckis Feststellung, Pétain sei ein «guter Franzose», oder Stamms Feststellung, Pétain sei «kein Politiker» gewesen, greifen viel zu kurz (S. 248, 253). Seltsam wirkt die Übernahme der Vermutung, dass sich Pétain wegen «fortschreitender Alterstaubheit» nicht gegen Arbeiterdeportationen und Judenverfolgungen gewehrt haben könnte (S. 250). – Zu Stuckis Verhältnis zur Privatwirtschaft erhalten wir nur späte und spärliche Auskünfte im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, sich Alterseinkünfte zu sichern (S. 340, 370). Stucki hatte stets die wirtschaftlichen Gesamtinteressen des Landes zu vertreten; wie weit diese identisch waren mit partikularen Interessen einzelner Unternehmen, wird nicht erörtert.

Stamm legt eine solide dokumentierte und leserfreundliche Schrift vor und verfolgt damit keine wissenschaftlichen Ambitionen. Darum werden die angedeuteten Fragen nicht weiter verfolgt und wurde auch nur spärlich weitere Literatur einbezogen. In der schmalen Bibliographie steht beispielsweise das populäre Buch von William Shirer über den Zusammenbruch Frankreichs (1969); das allerdings nicht viel jüngere, aber kritischere Buch «La France de Vichy» (1972) fehlt. Der Bergier-Bericht erscheint bloss mit einem sehr pauschalen Verweis und wird inhaltlich nicht berücksichtigt. Die Publikationen von Rings und Vogler (1985) übergehend, kommt es zur unzutreffenden Angabe, dass das Faktum der Raubgold-Käufe der Nationalbank 1996 die schweizerische Öffentlichkeit überrascht habe, weil diese 1946 ungenügend informiert worden sei. Auch die Ausführungen zum Beispiel zur Kontroverse von 1955/57 zu Stuckis Rolle im «Interhandelfall» (S. 338) hätten einen Einbezug der Darstellung von Mario König (2001) erfordert.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Konrad Stamm: Der «grosse Stucki». Eine schweizerische Karriere von weltmännischem Format, Minister Walter Stucki 1888–1963. Zürich, Verlag Neue Züricher Zeitung, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 160-162.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 160-162.

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