Entstehung Schweiz. Unterwegs vom 12. ins 14

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Titel
Entstehung Schweiz. Unterwegs vom 12. ins 14. Jahrhundert


Herausgeber
Schweizerisches Nationalmuseum, Forum für Schweizer Geschichte Schwyz
Erschienen
Baden 2011: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Flavio Häner

Am 29. Oktober 2011 eröffnete das Forum Schweizer Geschichte Schwyz, die Zentralschweizer Stelle des Schweizerischen Nationalmuseums, die neue Dauerausstellung zur Geschichte der Entstehung der Eidgenossenschaft im Mittelalter. Zur Eröffnung erschien die gleichnamige Begleitpublikation. Vorweg soll gesagt werden, dass es mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist, eine Publikation zu einer Ausstellung zu bewerten, umso mehr, wenn der Rezensent die Ausstellung selber gar nicht besucht hat. Der hohe Aufwand, der mit der Erarbeitung eines solchen Werkes verbunden ist, rechtfertigt durchaus, dass Begleitpublikationen als unabhängige und selbständige Werke wahrgenommen werden, die auch ohne den direkten Bezug zur eigentlichen Ausstellung funktionieren und auch dementsprechend beurteilt werden sollten.

Die Begleitpublikation Entstehung Schweiz ist auf den ersten Blick ein reichhaltig illustrierter Sammelband und kein Ausstellungskatalog. Das 208 Seiten umfassende Buch enthält insgesamt elf Artikel mit einem Umfang von jeweils vier bis fünf Seiten. Sie sind in fünf beziehungsweise drei Abteilungen gegliedert und werden jeweils durch vier Abbildungen von Exponaten mit dazugehörigen Objekttexten voneinander getrennt. Wie aus der Einleitung von Andre Spillman hervorgeht, beabsichtigt das Buch in Blicken auf drei geopolitische Räume die Entstehungsgeschichten der Schweiz in Szene zu setzen. Ziel der Ausstellung und damit auch des Buches ist eine kritische Reflektion über die Geschichte der Schweiz jenseits nationalstaatlicher Grenzen und der Betonung, dass es nicht eine einzig wahre Geschichte der Schweiz geben kann. Dies wird auch im einführenden Artikel zur Entstehung der Schweiz im Überblick von Thomas Maissen deutlich. In seiner Darstellung der politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen im Gebiet der späteren Schweiz fordert er beim Blick auf die Geschichte der Schweiz im Mittelalter die Auflösung von gedachten staatlichen Grenzen. Daran schliessen nun die erwähnten Blicke auf die geopolitischen Räume aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven. Der Blick auf Mitteleuropa beginnt bei einer Untersuchung eines wichtigen Bestandteils in der traditionellen Schweizer Geschichte, dem Eid. Diesen beschreibt André Holenstein nicht als aussergewöhnlichen Ritus oder Zeremoniell, sondern als einen festen und beinahe alltäglichen Bestandteil in der politischen und rechtlichen Kultur des Mittelalters. Am Beispiel des Kommunalwesens norditalienischer Städte zeigt Denise Tonella, dass es im Verlaufe des 12. und 13. Jahrhundert auch an anderen Orten und Regionen Europas Bestrebungen zur Selbstverwaltung und Loslösung von herrschaftlicher Gewalt gab und diese auch einen Einfluss auf die Entwicklungen im Gebiet der heutigen Schweiz hatten. In der Entwicklung der Schrift und schriftlicher Dokumente in der juristischen Verwaltung sieht Bernard Andermatt ein wichtiges Moment hin zur Etablierung stabiler politischer Systeme. Der Blick auf Europa ist somit in erster Linie eine Darstellung politischer Strukturen, die sich in Europa zur vermeintlichen Gründungszeit der Schweiz entwickelten.

Der folgende Blick auf den Alpenraum lässt sich anhand der Schlagworte Export, Import und Transport als alpine Wirtschaftsgeschichte charakterisieren. Als Erstes beschreibt Claudius Sieber-Lehmann die Bedeutung, die die alpinen Passstrassen bereits im späten Mittelalter für den gesamten europäischen Raum hatten. Der Aufschwung des Handels im Zusammenhang mit den sich entwickelnden Märkten und Messen ist das Thema von François de Capitani. Auch er zeichnet das Bild eines wirtschaftlich offenen und vernetzten Europas im Mittelalter, dessen Verkehrsknotenpunkte auch das Gebiet der heutigen Schweiz betrafen. Ähnlich beschreibt Kurt Weissen die Entwicklung der Geldwirtschaft und des Bankenwesens, und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Verflechtungen, die auch die politischen Strukturen in der Schweiz beeinflusst haben. Der Blick auf die Zentralschweiz richtet sich letztlich auf die politischen Strukturen und Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Eidgenossenschaft. Der Artikel von Peter Blickle nimmt sich ebenfalls des Themas der Kommunalisierung an und knüpft damit an den Artikel von Tonella an. Kathrin Utz Tremp zeigt anhand der Bedeutung der Städte im Gebiet der heutigen Schweiz, wie die Entwicklung der Eidgenossenschaft nicht ohne herrschaftliche Elemente und Strukturen funktionierte. In Erika Hebeisens Darstellung der Schlacht von Sempach klingt durch, dass die Kriege im Gebiet der Eidgenossenschaft nicht nur als reine Befreiungskriege zu deuten sind, sondern es dabei stets auch um die Sicherung von Herrschaftsstrukturen ging. Die Publikation endet mit dem Artikel von Georg Kreis, in welchem er die Geschichte der Entstehungsgeschichte der Schweiz nachzeichnet.

Die Artikel zeichnen sich dadurch aus, dass sie einzelne Elemente einer mythischen Entstehungsgeschichte der Schweiz dadurch dekonstruieren, indem sie in einen gesamteuropäischen Kontext gestellt werden. Sie alle beschreiben das Gebiet, in dem sich die Schweiz entwickelt hatte, als eine offene, vernetzte und von überregionalen Prozessen beeinflusste Region, welche zur «Gründungszeit» noch weit von einer politischen oder kulturellen Einigkeit entfernt war. Durch die unterschiedlichen Blicke, welche auf einzelne Themen gerichtet werden, gelingt es der Publikation zu zeigen, dass es sich bei der Entstehung der Schweiz um eine Vielzahl von ineinander verflochtenen Geschichten handelt und nicht um eine einzige, lineare Entwicklung vom Rütlischwur bis zum modernen Nationalstaat.

Zum Schluss stellt sich die zu Beginn dieser Rezension gestellte Frage, ob das Buch als eigenständige Publikation über die Geschichte der Schweiz funktioniert. Gemessen am Inhalt müsste man diese Frage verneinen. Die Publikation zielt darauf ab, die bisherige Geschichte der Schweiz kritisch zu hinterfragen, ohne dabei aber diese etablierten Vorstellungen genau auszuformulieren. Sie setzt also die Kenntnis der bereits geschriebenen Schweizergeschichte(n) voraus, ohne dies zu explizieren.

Auch der Beitrag zur Forschung ist relativ gering, was mit der Kürze der einzelnen Artikel zu tun hat. Gerne wünschte man sich ausführlichere Behandlung von historischem Quellenmaterial oder den Bezug auf theoretische Ansätze aus den Geschichtswissenschaften. Es handelt sich also nicht um einen geschichtswissenschaftlichen Sammelband – was auch nicht die Absicht der Publikation gewesen ist – sondern um eine sehr gute Begleitpublikation zu einer Ausstellung. Die Stärke des Buches liegt darin, dass es nicht nur auf die neue Dauerausstellung im Forum Schweizer Geschichte Schwyz aufmerksam macht, sondern potentielle Besucher mit sehr vielen Informationen ausstattet, damit sie, sobald sie die Ausstellung besuchen, sich ganz den Exponaten widmen können, ohne das Gefühl haben zu müssen, dass dies zulasten der Inhalte ginge. Dass es sich mehr um eine Lektüre zu Vor- als zur Nachbereitung handelt, kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass eine Broschüre mit Ausflugstipps und Museen in Schwyz beigelegt ist. Nicht nur, aber besonders für Lehrpersonal der Oberstufe bietet diese Begleitpublikation ein ideales Instrument zur Vorbereitung für eine sachliche Behandlung des Themas Schweizergeschichte im Unterricht und einen damit verbundenen Besuch der Dauerausstellung in Schwyz. Auch wer die Ausstellung nicht besucht, erhält mit dieser Begleitpublikation eine schöngestaltete, informative Lektüre, die ein aktuelles Bild zur Geschichte der Schweiz vermittelt .

Zitierweise:
Flavio Häner: Rezension zu: Entstehung Schweiz. Unterwegs vom 12. ins 14. Jahrhundert. Hg. vom Schweizerischen Nationalmuseum, Forum für Schweizer Geschichte Schwyz. 208. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 150-152.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 150-152.

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