C. Pfister u.a.: Atlas des Kantons Bern 1750-1995

Titel
Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern 1750-1995. Umwelt - Bevölkerung - Wirtschaft - Politik


Herausgeber
Pfister, Christian; Egli, Hans-Rudolf
Erschienen
Bern 1998: Historischer Verein des Kantons Bern, Staatsarchiv des Kantons Bern
Anzahl Seiten
171 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Jörn Sieglerschmidt, Historisches Institut, Universität Mannheim Landesmuseum für Technik und Arbeit Mannheim

Zahlen sind wieder außer Mode gekommen in der deutschen Geschichtswissenschaft, seit klar ist, daß eine angeblich erreichbare, größere Objektivität eine Schimäre ist, und als Folge auch des linguistic turn die Geschichtenerzähler wiederum das Feld beherrschen. Die Konjunktur der Verarbeitung und darstellerischen Auswertung quantifizierbarer Daten ist spätestens seit Beginn der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu einem abrupten Ende gekommen. In der kulturalistischen Wende werden Zahlen als das gesehen, als was sie zuvor bereits gegolten haben: als allenfalls schmückendes Beiwerk einer hermeneutisch verfahrenden Wissenschaft, die Ereignisse den Strukturen vorzieht und Zahlen gern als objektiven Schein entlarvt. Quantifizierende Methoden haben sich daher dorthin zurückgezogen, wo sie bereits vorher beheimatet waren: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Landeskunde und -geschichte. Diese Wandlung fand statt, ohne eine größere Diskussion zu provozieren, und zeigt die Wiederkehr des herkömmlichen Spartendenkens an. Der Begriff der historischen Sozialwissenschaft bekommt damit einen haut goût. Das eigentliche Feld dieser in den sechziger und siebziger Jahren akzeptierten Forschungen sind vornehmlich die natürlichen und materiellen Reproduktionsbedingungen von Gesellschaften und die Bedeutung dieser Bedingungen für das alltägliche Handeln historischer Subjekte. Trotz des vormaligen Forschungsschwerpunktes der DFG zur historischen Statistik sind Material und Möglichkeiten der verfügbaren Quellenbestände in Deutschland weder methodisch noch inhaltlich ausgeschöpft.

Christian Pfister beschäftigt sich seit über fünfundzwanzig Jahren mit Problemen des Verhältnisses von Mensch und Natur, von Wirtschaft und Gesellschaft. 1 Seine Forschungen zur Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Klimageschichte sind immer getragen gewesen von der Vorstellung systemischer Zusammenhänge zwischen energetischen und wirtschaftlichen Systemen. Insbesondere seine klimahistorischen Forschungen sind bahnbrechend in der europäischen Forschung und haben in weitläufigen europäischen Projekten die Klimaforschung auf eine neue Basis gestellt. 2

Neben diesen überregional angelegten Forschungen hat Pfister sich auch der Regionalgeschichte gewidmet und zwar der quantifizierenden Rekonstruktion der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen des Kantons Bern. Dieses vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung seit 1985 geförderte Projekt hat seinen ersten umfassenden Überblick bereits 1995 gefunden 3, weswegen diese Darstellung in die Besprechung des o. a. Buches miteinbezogen wird. Sie bewegt sich ganz im herkömmlichen Duktus einer sozial- und wirtschaftshistorischen Darstellung. Nur hier kommen einige methodologische Grundannahmen zur Sprache. Gefordert wird eine Verbindung von strukturgeschichtlichen und hermeneutischen Methoden (34f.). Als Ziel der Untersuchung werden die Beobachtung "überindividueller Bedingungskonstellationen" (32) sowie "anonyme, strukturelle Rahmenbedingungen der Geschichte" (33) gesehen, die sinnvolle Gliederung der geschichtlichen Prozesse als Ziel der Darstellung, um die Fülle der Ereignisse begreifbar zu machen (36). Die bei Jeremy Rifkin entwickelte These, von der Abfolge der Energienutzungsysteme (Holz, Kohle, Öl) und der damit verbundenen Abfolge von Weltbildern wird zustimmend zitiert (36f.). Wichtig ist die Orientierung an den bei O. Löfgren auf der Basis der Energienutzung entwickelten Ökotypen von Agrargesellschaften (peasant ecotypes), Ökotypen, die als überindividuelle Muster das Sozialgefüge, Institutionen, Rechtsordnung, Denk- und Verhaltensweisen beeinflussen (27-29, 161). Der historischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert zugrundegelegt wird Volker Bornschiers Modell der Entwicklung von einer liberalen über eine klassenpolarisierte zu einer neokorporatistischen Gesellschaft, die jetzt in Auflösung begriffen ist. Bornschier will mit diesem Modell die aufeinanderfolgenden, prägenden Wirtschaftsstile beschreiben und bemüht dabei die naturalistische Analogie von Blüte, Reife, Verfall (37f., 337). Das Ergebnis der Untersuchung ist eine Epochengliederung der Schweizer Geschichte seit 1700 (337-347).

Einen methodisch anderen Weg sind Hans-Rudolf Egli und C. Pfister mit ihren Mitarbeiter/innen in der jetzt vorliegenden Arbeit gegangen. Mit ihr werden die Ergebnisse einer umfänglich angelegten, geographisch und kartographisch aufgearbeiteten Datensammlung zur Geschichte des Kantons Bern präsentiert: BERNHIST. Die Datenbank BERNHIST ist auch im Internet zugänglich, allerdings noch nicht in der hier als Buch vorliegenden Form [http://www.cx.unibe.ch/hist/fru/fru-bhi.htm]. Es können Daten recherchiert, nicht aber kartographisch dargestellt werden.

Nach einer kurzen Einleitung werden auf etwa zweihundert Karten in den sieben Kapiteln Raum und Umwelt, Bevölkerung, Siedlungs- und Stadtentwicklung, Gesamtwirtschaft/ soziale Ungleichheit, Land- und Forstwirtschaft, Gewerbe/Industrie und Dienstleistungen sowie Politik dargestellt. Die ersten beiden Themen nehmen dabei fast die Hälfte des Raumes ein, wobei eine klare Trennung zwischen den einzelnen Themenblöcken kaum zu leisten ist. So hätte die Auflösung der Gewannfluren auch bei der Landwirtschaft Platz finden können. Verwaltungsstrukturen wie Einwohner- und Kirchgemeinden hätten mit der Politik zusammengelegt werden können. Doch sind das Dinge der Konvention und/ oder der notwendigen Zuordnung bei Themen, die mehrere Aspekte berühren.

Die gesamte Darstellung will sich nicht nur an ein speziell vorgebildetes Publikum wenden und enthält sich daher weitestgehend eines Spezialvokabulars. 4 Angesichts des sehr beschränkten Raumes, der für das vielfältig interpretierbare Material verfügbar ist, wird darauf verzichtet, Dinge, die aus der Lektüre der Karten lesbar sind, nochmals im Text zu wiederholen. Das stellt zwar eine rigide Anforderung an die Leser/innen, die bildliche Darstellungen eher wie Illustrationen zu lesen gewohnt sind, eröffnet aber die Möglichkeit, daß Karten und Text sich in sinnvoller Weise ergänzen. Das Photomaterial wird zwar zumeist illustrativ verwandt, dient aber zusammen mit den Bildlegenden auch der Ergänzung der Darstellung durch wichtige thematische Aspekte.

Die Darstellung der Karten ist durchwegs außerordentlich klar, die Legenden verständlich. In zahlreichen Kleinigkeiten ist das unbedingte Bemühen um methodische Sauberkeit der Darstellung zu spüren. So ist neben den kartierten Maßzahlen (z. B. Anteil der Deutschsprachigen in Prozent der Wohnbevölkerung) immer die Zahl der in die jeweilige Klasse gehörigen Gemeinden genannt, die sofort die Häufung bestimmter Merkmale in bestimmten Größenklassen erkennen lassen. Die Zahl der Beispiele, die die methodische Präzision und die Lesbarkeit der Karten steigern, ließe sich leicht vermehren und zeigt, daß viel Anstrengung in diese Arbeit geflossen ist. Ob die methodische Rigidität allerdings soweit getrieben werden muß, daß allgemein vertraute Darstellungsmittel ausgeschlossen werden, wäre nochmals zu überlegen: So ist eine Flächendarstellung nur dort zugelassen, wo tatsächlich direkte Beziehungen zwischen einer Fläche und dem darzustellenden Thema bestehen. Dadurch können zwar Anteile der Siedlungsfläche an der Gesamtfläche einer Einwohnergemeinde flächig dargestellt werden (43), nicht aber die Bevölkerungsdichte als Quotient zwischen Einwohnerzahl und Fläche (47, 49).

Geographische Grundlage der Kartierung ist die Aufteilung des Kantons in Kirchengemeinden, wie sie bereits um 1900 bestand. Ansonsten wird die Aufteilung in Einwohnergemeinden, wie sie heute gültig ist, zugrundegelegt. Um 1900 ist der höchste Deckungsgrad mit den Verwaltungsgrenzen des Ancien Régime festzustellen. Kartenserien, die den gesamten Zeitraum erfassen (1750-1995), können daher auf einheitlicher Grundlage kartiert werden. Die zahlreichen Änderungen vor allem der kantonalen Grenzen bis hin zur Sezession des Kantons Jura sind dokumentiert (34). Offensichtlich ist hier ein pragmatischer Weg gewählt worden zwischen möglicher Präzision und großen Wissenslücken, gerade was die Festlegung und Entwicklung der Verwaltungsgrenzen im Ancien Régime, aber auch noch im 19. Jahrhundert angeht.

Inhaltlich nehmen sich die Herausgeber vor, für ein geographisch sehr kontrastreiches Gebiet die langfristige Entwicklung unter dem Hauptgesichtspunkt nachhaltigen Wirtschaftens aufzuweisen. Nachhaltigkeit wird aus ihrer Sichtweise gebildet durch wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, soziale und ökologische Verträglichkeit. Für C. Pfister ist es dabei wichtig, nochmals auf den Weg von der Agrargesellschaft zur Konsumgesellschaft hinzuweisen, wobei eine wesentliche Epochenschwelle hinsichtlich der ökologischen Verträglichkeit des Wirtschaftens für ihn um 1950 liegt. Wichtig sind die Einsichten in die differentielle wirtschaftliche Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Im Gegensatz zur Ostschweiz (Zürich) nimmt das Berner Land die durch den Eisenbahnbau gegebenen wirtschaftlichen Impulse erst ab Ende des 19. Jahrhunderts auf und gewinnt Anschluß an das gesamtschweizer Niveau. Die mangelnde Entwicklung scheint aber dem Kapitalmangel geschuldet. Dort, wo ausreichend Kapital war, ist in Innovationen schnell und ausreichend investiert worden.

Erstaunlicherweise wird über die theoretischen Vorgaben der raumbezogenen Betrachtungsweise nichts gesagt, obwohl z. B. das Modell der zentralen Orte nach Walter Christaller vorbildlich umgesetzt wird. Vielleicht ist das der Grund, warum letztlich der gesamte Atlas als historischer Atlas in einem stark erneuerten Gewande gelten kann, aber doch in seinen Darstellungen eher statisch wirkt. Zwischen den einzelnen Themenbereichen werden zwar im Text Verbindungen hergestellt, doch in den Karten ist eine solche Darstellung komplexer Zusammenhänge nicht zu finden. Kartographische Darstellungsmittel sind sicherlich weniger variabel und bildreich als verbale. Doch gerade raumbezogene Methoden haben prinzipiell die Offenheit für dynamische Darstellungsmittel, wie sie z. B. von Peter Haggett oder Tosten Hägerstrand vorgeführt worden sind. Auch die Voraussetzung für den Einsatz solcher Darstellungsmittel ist durch die Aufbereitung der Daten in BERNHIST gegeben: durchgängige Quantifizierung der Ergebnisse. Es bedarf aber des schwierigen Abschieds von der Fixierung auf die landesgeschichtlich gegebenen Verwaltungs- und politischen Grenzen. So wäre es sicherlich sinnvoll gewesen, Reliefunterschiede, Verkehrserschliessung und Besiedlungsprozesse so miteinander zu verknüpfen, daß deutlich wird, inwieweit diese Variablen voneinander abhängig sind. So könnten andere Darstellungsmittel den durchaus thematisierten Zusammenhang (40-43) augenfälliger machen, vielleicht sogar regionale Unterschiede deutlich werden lassen. Auch bleibt z. B. das Konzept der Ökozonen (30f.), wie es im oben angeführten Buch ausführlicher erläutert wird, zu statisch, letztlich ohne die Bezüge, die theoretisch ebendort zwischen Ökotyp und anderen Variablen hergestellt worden sind.

Dieser grundsätzliche Einwand gegen die Art der Darstellung kann freilich nicht mehr sein als ein Hinweis auf mögliche weitere Wege der Erforschung und Auswertung des Materials. Es ist klar, daß die vorgeschlagene Vorgehensweise außerordentlich hohe Ansprüche stellt, die in vielen sozial- und wirtschaftsgeographischen Darstellungen ebenfalls wegen des hohen Aufwandes umgangen oder zuweilen wegen der methodischen Vorgaben des statistischen Materials selbst unmöglich werden. Vielleicht ergeben sich ja Möglichkeiten mit der avisierten multimedialen Umsetzung der Daten (15).

Der historisch-statistische Atlas bleibt trotz der Kritik in vieler Hinsicht ein Vorbild für die raumbezogene Verarbeitung quantitativer historischer Daten. Viele der historischen Atlanten kommen in Detailgenauigkeit und zeitlicher Tiefe diesem Vorbild bei weitem nicht nahe. Dazu müßten in Deutschland erst entsprechende Forschungen in Gang gesetzt werden. Zudem wäre die verbreitete Raumblindheit der deutschen Geschichtswissenschaft zu kurieren. Wer gewöhnt ist, mit nur einer Dimension auszukommen, stellt sich schwer auf eine vierdimensionale Betrachtungsweise um. Wie fruchtbar diese ist, können die im historisch-statistischen Atlas vorgelegten Ergebnisse zeigen.

Anmerkungen:
1 Christian Pfister: Agrarkonjunktur und Witterungsverlauf im westlichen Schweizer Mittelland 1755-1797, Bern 1975
2 Ders.: Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft. 2 Bde. Bern: Haupt 1984.
3 Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Band IV: Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700-1914. (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern Bd. 78) Bern: Historischer Verein des Kantons 1995.
4 Gerade deswegen sollten die nur Karthographen geläufigen Choroplethen nicht als Chloroplethen erscheinen (15).

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25.02.2000
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