D. Trachsel: Bundesrat Max Petitpierre

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Titel
Bundesrat Max Petitpierre. Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945–1961


Autor(en)
Trachsel, Daniel
Erschienen
Zürich 2011: NZZ Libro
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Mit Politikgestaltung ist mehr gemeint als individuelles Reagieren in Einzelfällen, nämlich das Entwickeln und Verfolgen eines möglichst kohärenten Konzepts unter Ausnützung bestehender Handlungsspielräume. Dieses Verständnis liegt auch der jüngsten historischen-politologischen Studie zu Max Petitpierre zugrunde, zu einem Magistraten, der in den Jahren 1945–1961 als Mitglied der Schweizer Regierung Hauptverantwortlicher für die Gestaltung der Aussenpolitik dieses Landes war.

Daniel Trachsler, ihr Verfasser, geht der Frage nach, inwiefern Petitpierre die aussenpolitische Konzeption und Praxis geprägt und wie sich der Handlungsspielraum allenfalls verändert hat. Dabei ergibt sich der widersprüchliche Befund, dass Petitpierre in der ersten Hälfte seiner Amtstätigkeit als aussenpolitischer «Novize» durchaus gestaltend, in der zweiten Hälfte als erfahrener Aussenpolitiker dagegen mehrheitlich nur noch verwaltend tätig gewesen ist. Dieser paradoxe Befund erklärt sich aus verschiedenen Umständen: Zum einen erlaubten die spezifischen Herausforderungen der ersten Phase, insbesondere die Bereinigung der Beziehungen zu den USA und der UdSSR, ein formatierendes Gestalten. Zum anderen traten in der zweiten Phase im Regierungsapparat Gegenkräfte auf, welche Petitpierres Handlungsspielräume einschränkten. Im Weiteren wurde Petitpierre immer mehr der Gefangene seiner eigenen Doktrinen. Die letzten beiden Punkte erklären sich in hohem Masse aus Petitpierres Persönlichkeit und lassen sich mit dem vom Autor partiell gewählten biographischen Ansatz erfassen.

Trachsler reflektiert diesen Ansatz in seiner Einleitung und meint, mittlerweile sei die Bedeutung der strukturellen Rahmenbedingungen derart unbestritten, dass die Gefahr einer Überbewertung des individuellen Einflusses nicht mehr bestehe. Das gutentwickelte politologische Interesse des Verfassers gewährleistet die angemessene Berücksichtigung auch der Rahmenbedingungen. Trachsler verfolgt in seiner Abhandlung konsequent und systematisch die Haltungen des Protagonisten in den drei Hauptbereichen der Europapolitik, der Uno-Politik und der Entwicklungspolitik, was – ganz am Rande – auch die Haltung zum einsetzenden Dekolonisationsprozess betrifft.

Im Bundesrat nahm Petitpierre bezüglich der Neutralitätsdoktrin die liberalste Haltung ein, aber schon in Kommissionssitzungen mit Parlamentariern begnügte er sich zum Beispiel 1950, bloss rhetorisch die Frage aufzuwerfen, ob die Schweiz abseits bleiben könne, wenn es um die Rettung der Zivilisation gehe, der sie doch angehöre (S. 175). Bedenkenswert sind sodann die Ausführungen zum «Neutralitäts-Chauvinismus», was ein interessanter Neologismus ist und abwertende Haltungen gegenüber Neutralitätsauffassungen anderer Staaten meint (S. 214).

Ein besonderer Kritikpunkt betraf die «zweigleisige Kommunikation»: gegen innen eher offen und nüchtern, gegen aussen in der Sache zurückhaltend, aber die Sonderfallideologie bekräftigend. Trachsler dazu: Petitpierres Auftritte in der Öffentlichkeit seien «von einer gewissen Skepsis gegenüber dem aussenpolitischen Urteilsvermögen der breiten Bevölkerung»bestimmt gewesen (S. 53). Dies habe kurzfristig Vorteile in Form von Handlungsspielräumen gebracht, sich langfristig aber als «Bumerang» erwiesen, weil damit die Gelegenheit zu einer Relativierung der selbstbezogenen Mentalität verpasst wurde (S. 90, 352).
Als Quellen dienten dieser Studie neben Petitpierres zeitgenössischen Äusserungen (internen Schreiben, die in den Diplomatischen Dokumenten der Schweiz publiziert und/oder in der DoDis-Datenbank greifbar sind, und Stellungnahmen im Parlament wie auch öffentliche Vorträge) sowie die nach Petitpierres Rücktritt entstandenen Fragmente mit Rechtfertigungscharakter. Es gehörte zur Ambivalenz des Biographierten, dass er sich auch diesbezüglich um Zurückhaltung bemühte, aber die Geschichtsschreibung doch mit steuernden Impulsen versah und insbesondere das Deutungsfeld nicht einfach einem seiner stärksten Gegenspieler, dem Tagebuch schreibenden Bundesrat Markus Feldmann, überliess. Dies obwohl er gegenüber der Geschichtsschreibung gewisse Vorbehalte hegte und selbstverständlich seine eigene Wahrnehmung für zutreffender hielt: «L’image que donne l’histoire des événements n’est pas toujours conforme à ce qui s’est réellement passé.» (S. 346). Unter Petitpierres gedruckten Schriften (S. 439) müsste auch die unter dem Herausgeber L.-R. Roulet aufgeführte Schrift von 1980 (S. 450) genannt werden, sind doch darin ein grosser Teil der «pages de mémoire» (immerhin 275 Seiten) veröffentlicht.

Der biographische Zugang ist bestrebt, die Haltungen des Biographierten zu verstehen und bis zu einem gewissen Grad auch zu rechtfertigen. Trachsler nimmt aber zu seiner Hauptperson eine bemerkenswert kritische Haltung ein und kommt zu erfrischenden Urteilen. So weist der Autor schonungslos darauf hin, dass es in der Ära Petitpierre zu einer drastischen Kompetenzverschiebung zugunsten des Volkswirtschaftsdepartements und auf Kosten des Departements für auswärtige Beziehungen – und damit auch zum Nachteil der politischen Positionierung der Schweiz in Europa – gekommen ist und Petitpierre es wirklich versäumt hat, sich dagegen zu wehren (S. 226, 240, 322). «Europapolitik ohne Aussenminister» überschreibt der Verfasser treffend das die späten 1950er Jahre betreffende Kapitel und zitiert ausführlich ein Protestschreiben Petitpierres von 1958 – das dieser bezeichnenderweise aber nie abschickte (S. 257). Schwer verständlich, dass Petitpierre mit dem Bericht einer Arbeitsgruppe, die ihm den Rücken stärkte, 1959 nicht in den Bundesrat ging. Jene Gruppe hatte sogar Vorund Nachteile eines EWG-Beitritts zu prüfen und kam zum Ergebnis, dass die Zugehörigkeit zu einem supranationalen Organ «an sich» nicht unannehmbar sei (S. 308).

Die Wiederherstellung der Beziehung zur Sowjetunion 1946 war gewiss ein Erfolg, vielleicht sogar eine «Meisterprüfung» des frischgebackenen Aussenministers, sie wird – nicht wirklich einleuchtend – als «gelungener Coup» bezeichnet (S. 67) und entsprach dem Bestreben nach Universalität, einem in der Analyse ansonsten wenig angesprochenen Prinzip, das ebenfalls zu den Maximen der Petitpierre’schen Aussenpolitik gehörte. Erwartungsgemäss spielt die Neutralitätsmaxime in der Formulierung der schweizerischen Aussenpolitik jener Jahre eine wichtige Rolle. Überraschend ist aber, wie gross vor allem bei Petitpierre 1948 die Bereitschaft war, die Neutralität zugunsten einer solidarischen Kooperation mit dem Westen aufzugeben (S. 121ff). Das Wort «Solidarität», das eigentlich eine unterstützende Haltung meint, bedeutete hier vor allem ein Dabeisein-Wollen. Wie begrenzt auch bei Petitpierre die Solidaritätsmaxime war, zeigt die eindrückliche Feststellung, mit der im Januar 1953 ein Fernbleiben vom europäischen Vergemeinschaftungsprojekt begründet wird: «Nous devons avouer que nous sommes egoistes et expliquer que nous avons le droit de l’être.» (S. 223)

Trachsler zeigt mit der nötigen Deutlichkeit, wie sehr der schweizerische Aussenminister von der abweichenden Mehrheitsmeinung der Kollegialregierung abhängig war. Was er nicht zeigt und unter dem biographischen Aspekt von Interesse gewesen wäre, ob Petitpierre so in die anderen Departemente hineinregierte, wie deren Chefs es umgekehrt bei seinem Departement taten. Möglicherweise gab es diese Reziprozität aus zwei Gründen nicht: einmal weil die Aussenpolitik mehr als andere Politikbereiche ein alle interessierendes Querschnittsthema war (was man aber insbesondere von den Finanzen jedoch ebenfalls sagen kann); und zum anderen, weil sich Petitpierre möglicherweise auf sein Feld beschränkte und damit auf die auswertende Nutzung seiner Zustimmungsmacht in anderen Bereichen verzichtete.

Es ist gewiss nur eine Nebensache, wirft aber doch ein interessantes Licht auf die Einkommen der (schweizerischen) Wirtschaftselite: Die sicher nicht geringe Entlöhnung eines Bundesrats war offenbar nur so hoch angesetzt, dass ein Petitpierre mit der Übernahme des Mandats «materielle Nachteile» in Kauf nahm (S. 42). Während seiner Amtszeit erhielt er attraktive Angebote, unter anderem von Nestlé und Crédit Suisse; nach seinem Aussscheiden aus der Regierung wurde er sogleich Nestlé-Verwaltungsratspräsident und kam auch ins Aufsichtsgremium von SwissRe. Selbstverständlich war der elder statesman aber auch in politischen Belangen weiter gefragt, zum Beispiel als Vermittler im Jurakonflikt (S. 345).

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Daniel Trachsler: Bundesrat Max Petitpierre. Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945–1961. Zürich, NZZ-Libro Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 302-305.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 302-305.

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