H. Jost: Politik und Wirtschaft im Krieg

Titel
Politik und Wirtschaft im Krieg. Die Schweiz 1938-1948


Autor(en)
Jost, Hans Ulrich
Erschienen
Zürich 1998: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 19,50
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Stefan Laube, "Schweiz und Zweiter Weltkrieg" ETH-Zentrum, Unabhängige Expertenkommission (UEK)

Es wird nicht mehr lange dauern und die von der Schweizer Regierung eingesetzte Unabhängige Expertenkommission (UEK) "Schweiz und Zweiter Weltkrieg" wird in einem guten Dutzend Monographien und einer darauf fussenden Gesamtdarstellung auch den letzten Winkel der Finanz- und Wirtschaftspolitik des Alpenlandes in der Zeit des Nationalsozialismus quellengesättigt und facettenreich beleuchtet haben. Ob sich dann noch ein unbefangener Forscher trauen wird, sich diesem Bereich Schweizer Geschichte mit neuen Fragestellungen zu nähern? Daß dann die eidgenössische Zeitgeschichtsschreibung nicht in eine saturierte Lähmung verfallen muß, zeigt das Buch des in Lausanne lehrenden Zeithistorikers Hans Ulrich Jost mit dem einfachen, aber nicht unerheblichen Titel "Politik und Wirtschaft im Krieg. Die Schweiz 1938-1948".

Schon die Periodisierung macht deutlich, daß in der Schweiz die Uhren oft etwas anders gehen. Orientieren sich Kriegsgeschichten anderer europäischer Länder an Zäsuren und Ereignisse des Krieges selber, wie besonders ihres Anfangs und Endes, fängt Josts Geschichtsbuch etwas früher an und hört um einiges später auf, weil er in dem Jahrzehnt von 1938 bis 1948 eine ökonomische Formationsphase belegen kann, in der die Stagnationszeit infolge der Wirtschaftskrise in das langfristige Wirtschaftswachstum der 50er Jahre übergegangen sei. Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit dem Jahr 1940, in dem er auch im sonst resistenten Bürgerblock zunehmend rechtslastige Denkweisen diagnostiziert. Schon auf Seite 150 ist Jost im letzten Kriegsjahr angelangt. Nach seiner Ansicht habe für die Schweiz erst in der Auseinandersetzung mit dem verstärkten alliierten Druck der Krieg begonnen.

Der bisher als Kenner der politischen Ideen- und Diplomatiegeschichte bekannte Autor steht nicht vor dem Problem mancher spezialisierter Wirtschaftshistoriker, vor lauter Zahlen und Daten in Statistiken und Diagrammen die gesellschaftlichen Leitlinien aus dem Blick zu verlieren. Vielmehr erfährt man aus Josts umwertender Perspektive mehr darüber, was die Schweiz der damaligen Zeit in ihrem Kern zusammenhielt: "Nicht der menschlichen und moralischen Tragik des Kriegs galt die Hauptsorge der offiziellen Schweiz, sondern der optimalen Erhaltung einer auf Privatbesitz beruhenden, hochentwickelnden Volkswirtschaft." (S.27)

In der Zeit des Kalten Krieges hingegen seien die Historiker an der Schaffung zählebiger Geschichtsbilder (v.a. Bonjour) beteiligt gewesen und hätten aus der Schweiz einen Fels der Neutralität geformt, an dem sich die gewalttätigen Ideologien des 20. Jahrhunderts vergeblich brachen. Auf diese Weise hatte es die Schweizer Regierung immer richtig gemacht. Selbst der Goldhandel wurde lange Zeit als ein "technisches" Problem totgeschwiegen, da es die schon damals gepflegte Neutralität angeblich unmöglich gemacht habe, Goldangebote einseitig abzulehnen. Jetzt werde hingegen immer deutlicher, daß dieser neutrale Standpunkt selber auf einer Ideologie beruhte und man der historischen Realität näherkommt, wenn in der helvetischen Republik ein von Anfang an in die Kriegspolitik der Achsenmächte integriertes Dienstleistungszentrum für kriegsnotwendige Geld- und Handelsgeschäfte und eine Drehscheibe des Transitverkehrs und des Nachrichtenaustausches gesehen wird.

Im Bereich der Aussen- und Kriegswirtschaft sind nach Jost die entscheidenden Entscheidungen gefallen, an denen sich die gesamte Schweizer Gesellschaft zu orientieren hatte. Hier entstand ein "weltweites Netz von Hochspannungsleitungen", während die übrige Außen- und ein großer Teil der Innenpolitik" bestenfalls von den großen Leitungen abhängige Interferenzströme" (S.158) darstellten. Josts Erkenntnisinteressen bestätigen somit den Forschungsauftrag der UEK, Wirtschaft und Finanzen der Schweiz aus dem Käfig einer segmentierten Geschichtsbetrachtung zu befreien und ihnen eine herausragende Position einzuräumen, will man stichhaltige Beurteilungsmaßstäbe zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gewinnen.

In sieben chronologisch angeordneten Kapiteln, in denen sich systematische Ableitung und deskriptive Erzählung abwechseln, entfaltet der Autor sein Thema. Das Arsenal der Strukturmerkmale der damaligen Gesellschaft liefert er zu Anfang: "Verwirtschaftlichung der Politik, Militarismus, Autoritarismus und Demokratiekritik, Antikommunismus, Widerstand gegen die Frauenemanzipation, natalistische Bevölkerungspolitik und - eine wichtige positive Zielvorstellung - Gemeinschaft mit sozialpolitischer Absicherung." (S.21) Darüberhinaus reflektiert Jost den höchst selektiven Umgang der Schweizer Nachkriegsgesellschaft mit ihrer jüngsten Geschichte und legt mit "Armee - Volk - General"; "Bundesrat - Vollmachtenregime - politischer Diskurs"; Aussenwirtschaft - Kriegswirtschaft - innere Ordnung" sowie "Frauen - Alltag - Kultur" zentrale vergangenheitspolitische Dimensionen offen (S.221), die jedoch noch einer "gründlichen Analyse" (S.213) bedürfen. Mit seiner Feststellung, daß das ökonomische Untersuchungsfeld bisher in der Historiographie und im öffentlichen Bewußtsein noch nicht genügend zur Kenntnis genommen worden sei, rennt Jost inzwischen bestimmt nur noch offene Türen ein.

Die Stärke des Buches liegt in seiner Verknüpfung von Personen- und Institutionengeschichte. So ist auffällig, wie im Krieg weitgehend unbemerkt vom Schweizer Volkswillen eine Reihe wichtiger Einrichtungen entstehen: die "Ständige Delegation für Wirtschaftsverhandlungen", dann die "Wirtschafts- und Finanzdelegation" des Bundesrates sowie eine "Kommission für Kriegswirtschaft" und schließlich eine "Sektion für Rechtswesen und private Vermögensinteressen" des Politischen Departements. Dahinter stand das zunächst bis 1940 vom auffallend liberal eingestellten Hermann Obrecht, dann von seinem freisinnigen Kollegen Walther Stampfli geleitete Volkswirtschaftsdepartement mit seinen kriegswirtschaftlichen Sektionen sowie das Politische Departement unter Marcel Pilet-Golaz. Politik fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt; sie zog sich immer mehr in Kommissionen und geschlossene Eliten zurück. Mit Hilfe dieser "elitären Gruppenherrschaft" (S.22) sollte das große Ziel der Epoche erreicht werden: die "Optimierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit" (S.128) in einem von privaten Wirtschaftsinteressen dominierten staatlichen System. Da es für dieses politische Kräftefeld typisch war, stets in einem Arkanum hermetisch abgeschiedener Expertengruppen und Kommissionen zu funktionieren, lag es für die mythenproduzierenden Geschichtspolitiker der Nachkriegszeit immer wieder nahe, offensichtlichere Bestandteile des politischen Lebens in Bundesrat und politischen Parteien sowie in Armee und Landesverteidigung wichtiger zu nehmen, als dies ihrem tatsächlichen realpolitischen Gewicht entsprochen hätte.

Jost stellt in seiner Abhandlung immer wieder pointierte Thesen auf, erzählt meist anschaulich und beschreibt dicht auf der Basis abwechslungsreicher Indizien, die nicht nur diplomatische Geheimverhandlungen einbeziehen, sondern auch Fußballspiele und nationale Jubiläumsfeiern. Der Charakter des Buches besteht in seiner passenden Zitatenmontage, in zahlreichen Aspektwechseln und in einer bildlichen Sprache.(z.B. "politischer Rauhreif" (S.44), Außenhandel als "strategischer Lebensader" (S.12)).

Infolge der essayistisch anmutenden Stehgreifattitüde verwundert es kaum, daß explizite begriffliche Reflexionen weitgehend ausbleiben, worunter vor allem der nichtschweizer Leser klagen mag, nachdem er allzu selbstverständlich mit Schweizer Besonderheiten, wie mit dem "Landammann" (S.79ff), dem "Vorort" oder dem "Vollmachtenregime" (S.134, S.166, S.224), konfrontiert wurde. Wenn - wie im Jahre 1940 - die "Komplexität des politischen Dramas" (S.64) überhand nimmt, greift der Autor zu einem eher antiquierten Mittel historischer Betrachtung - auf eine "chronologische Beschreibung, die beinahe Tag für Tag aufgreift" - zurück, um so die "Erodierung der demokratischen Werte" (S.96) klarer zu machen, was ihm aber letztlich nicht so gelingt. Erst am Ende wird die Frage beiläufig diskutiert, warum Nazideutschland die Schweiz nicht besetzt habe, anstatt sie zum Leitmotiv des gesamten Kapitels zu erheben.

Jost liefert ein anregendes, aber auch unfertiges Buch. Immer noch fehle eine umfangreiche Quellenerforschung, ebenso wie ein "einigermassen einleuchtendes Erklärungsmodell über die möglichen Interdependenzen und Divergenzen der verschiedenen historischen Felder" (S.229): "Kriegswirtschaft, Aussenhandel, Finanzpolitik und Finanzplatz Schweiz bildeten ein neues Kommunikations- und Entscheidungsystem, das die Behörden einerseits, die Banken- und Wirtschaftsvertreter andererseits in immer engere Beziehungen brachte". (S.19) Noch gibt es kaum Forschungsarbeiten, die mit Hilfe der Quellen aus Unternehmensarchiven, diese Behauptung überzeugender untermauern könnten. Die reichlich von Jost herangezogenen "Diplomatischen Dokumente der Schweiz" sind notwendig, reichen aber zu einer präzisen Beantwortung dieser Frage nicht aus. Dann könnte auch näher geprüft werden, ob sich hinter Josts Feststellung, daß die restriktive Flüchtlingspolitik mit Rekordwerten im Aussen- bzw. Goldhandel einherging, auch ein tatsächlicher Zusammenhang verbarg.

Dann steht der Paradigmenwechsel in Richtung Kultur und Alltag in der Zeitgeschichte wohl noch aus; ihre Randlage wird in Josts Erklärungsansatz keineswegs aufgehoben. Vielleicht führt der Konstrukt eines "Schweizermenschen" etwas weit. Dennoch wird man an mentalitätsgeschichtlichen Erklärungsmodellen nicht vorbeigehen können, um das ausgeprägte Eigentumsbewußtsein sowie die Prinzipientreue in Geldfragen vieler Schweizer tatsächlich zu verstehen.

Georg Kreis monierte in seiner Besprechung [Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 49, (1999), S.264ff] das Ungleichgewicht in Josts Abhandlung zwischen Format und Gattung. Als Thesenbuch sei es zu kurz und als Gesamtdarstellung zu lang. Dem Verfasser eines wissenschaftlichen Essays mögen solche Kategorien wenig sagen, ebenso wie die Vorhaltung, zur Entwirrung faktengesättigter Realgeschichte mit einer rückblickenden Deutungsgeschichte besser zwei getrennte Bücher zu veröffentlichen.

Sowohl zur Realgeschichte als auch zur Vergangenheitspolitik gibt es noch viele Forschungslücken. Es wäre wünschenswert, wenn die im Rahmen der Forschungsleistungen der UEK von den einzelnen Teams in zahlreichen z.T. schwer zugänglichen Archiven erschlossenen Akten auch der nachwachsenden Forschung zur Nutzung freigegeben würden. Ebenso wichtig wäre es, wenn schon bald auch die interne Briefwechsel zwischen der Unabhängigen Expertenkommission und Bundesrat, beziehungsweise Firmen und Archiven für alle Interessenten offengelegt werden würde, damit die fällige vergangenheitspolitsche Debatte in wissenschaftlicher Form auch auf das Phänomen "UEK" ausgedehnt werden kann.

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07.05.2000
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