H. Braun: Geschichte der Familie von Graffenried

Cover
Titel
Notabeln, Patrizier, Bürger. Geschichte der Familie von Graffenried


Herausgeber
Braun, Hans
Erschienen
Bern 2012: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Birgit Stalder

Dass alte Patrizierfamilien Publikationen über ihre eigene Geschichte in Auftrag geben, hat Tradition und scheint gerade in letzter Zeit wieder verstärkt in Mode gekommen zu sein. Nach dem Buch über die Familie von Wattenwyl 2004 oder dem Bilderkatalog zur Familie Mülinen 2010 liegt nun ein knapp 200-seitiges Buch über das Berner Patriziergeschlecht von Graffenried vor. Wie schon für die Familie von Wattenwyl, zeichnet auch hier der Historiker Hans Braun verantwortlich.

Bereits die Aufmachung mit Hochglanz, den breit gewählten Seiten und den rund 350 Abbildungen deutet darauf hin, dass es sich nicht ausschliesslich um eine wissenschaftlich-kritische Aufarbeitung handelt, sondern auch um ein Geschenk der Familie an sich selber. Charles von Graffenried bestätigt dies auch in seinem Vorwort. Entsprechend kommt das bunt bebilderte Werk auch ohne Fussnoten aus. Dies will aber nicht heissen, dass Braun unsorgfältig gearbeitet hat. Seine Darstellung der Geschichte der Familie von den mythischen Anfängen im Mittelalter bis heute überzeugt durch eine Vielzahl historischer Fakten, einen klaren Aufbau und eine angenehme Sprache. Zudem besticht das Werk mit einem ausführlichen Glossar, einer Chronologie und einem Personenregister. Weiter präsentiert Braun eine umfangreiche Bibliografie.

Interessanterweise beginnt er das Buch mit einer Ausführung zu verschiedenen Vertretern der von Graffenriedfamilie, die sich mit Genealogie beschäftigt haben, angefangen beim ersten «Familienforscher» Anton von Graffenried, der 1717 ein erstes Stammbuch publizierte. Braun schliesst diese Darstellung mit der heutigen ersten Archivarin der Familie, Christine von Graffenried, die 2009 / 10 eine Ausstellung über die Gründung von New Berne 1710 initiierte, und mit dem Hinweis auf Thomas P. de Graffenried und Betty Wood Thomas, die als Nachfahren des amerikanischen Zweiges bedeutende Beiträge zur Familienforschung geleistet haben. Braun zeigt damit auf, wie wichtig die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte in der Familie schon immer war, und reiht sich damit selber in eine historiografische Tradition ein. Es handelt sich bei diesem ersten Kapitel um eine Art Forschungsbericht, dem leider die Öffnung auf aktuelle Werke auch zu anderen Patrizierfamilien und von anderen Autoren fehlt.

Das Werk schliesst mit einem Kapitel zum Familienwappen und zur Familienkiste, dem gemeinsamen Vermögen aller männlichen Familienmitglieder seit 1723. Die Familienkiste trug nicht nur ökonomisch zum Zusammenhalt bei, sondern wie die Genealogie und das Wappen kreiert sie auch ein übergreifendes Familiengefühl.

Dazwischen widmet sich Braun der eigentlichen Familiengeschichte. Auch wenn gewisse Spuren und Legenden ins 13. Jahrhundert zurückreichen, wird die Familie mit Burkhard von Grafenried, dessen Kauf von Schaffellen im Üechtland schriftlich vermerkt worden ist, 1356 erstmals wirklich greifbar. Als eigentlicher Stammvater gilt Niklaus (ca. 1468 – 1554), auf den sämtliche heute lebenden Familienmitglieder zurückgehen. Die von Graffenrieds waren Gerber und Kaufleute, stiegen dann aber im Ancien Régime schnell durch Bereicherung und Heirat in den Kreis der Vennerfamilien auf. Altbernische Aufsteiger aus dem Gewerbe und Handel kauften mit ihrem Vermögen Herrschaftsrechte, nannten sich Junker, imitierten adlige Lebensformen und verdrängten so den alten Adel. Die von Graffenrieds positionierten sich prominent und wurden zu einer der mächtigsten Patrizierfamilien im Alten Bern. Sie gehörten bis 1798 zu den zehn am stärksten vertretenen Familien im Grossen Rat, und die Familie blieb ab 1495 bis 1798 fast ununterbrochen auch im Kleinen Rat vertreten. Während 169 Jahren waren immer wieder Spitzenämter wie Venner, Seckelmeister oder Schultheiss in ihrer Hand.

Mit der Konsolidierung ihrer Macht vermehrte die Familie auch ihren Herrschaftsbesitz. Sie verfügte bis zum Ende des Ancien Régime über insgesamt zwölf Herrschaften, die nicht nur zur prunkvollen Aussendarstellung dienten, sondern zum Teil auch als Landgüter wichtige wirtschaftliche Ressourcen lieferten. Braun stellt jene detailliert vor, die über mehrere Generationen im Besitz der Familie geblieben waren: Carrouge, Worb, Münchenwiler und Burgistein. Weitere Bilder präsentiert er zu Gerzensee und New Berne, eine Gründung des ausgewanderten Christoph von Graffenried.

Das Ende des Ancien Régime 1798 mit dem Einmarsch Napoleons und der endgültige Sturz des alten Systems 1831 mit der Machtübernahme der Liberalen im Kanton Bern stellten die Familie von Graffenried wie alle andern ehemals einflussreichen Geschlechter vor die Herausforderung, den Anschluss an die neu sich konstituierende bürgerliche Gesellschaft zu schaffen. Braun widmet diesem Umbruch und der Integration der Familie in die neuen Verhältnisse nach dem Verlust aller politischen Stellungen und gesellschaftlichen Privilegien fast die Hälfte des Buches. Mögen die Ausführungen zu einzelnen Personen und deren bürgerlichem Berufsbild etwas weitschweifig sein, so zeigen sie doch deutlich, wie sich die Berufsbilder wandelten und sich heute nicht mehr von denjenigen nichtpatrizischer Familien unterscheiden. Zudem schliesst Braun hier an die Aktualität an, indem er heute lebende Vertreter der Familie wie den Fotografen Michael von Graffenried vorstellt.

Die Stärke des Buches liegt aber weniger in diesem letzten, etwas zu erzählerischbiografischen Teil als in den Kapiteln davor. Denn Braun ist es gelungen, die Geschichte der Familie in eine spannende Darstellung der Stadt Bern im Ancien Régime bis ins 19. Jahrhundert einzubetten. Dabei rücken sozial- oder alltagsgeschichtliche Aspekte in den Vordergrund. Er schreibt von der Berufsalternative Herrschaftsherr oder Offizier in fremden Diensten für die jungen Patrizier, schildert die soziale Organisation der Stadt Bern mit ihrer Aufteilung in Ewige Einwohner, Burger und Patrizier oder skizziert die Heiratspraktiken der Patrizierfamilien. Zudem erläutert er immer wieder auf verständliche Weise, aus welchen Quellen die entsprechenden Erkenntnisse generiert worden sind. Er unterlässt es auch nicht, quantitative Aussagen zur Familie von Graffenried – zum Beispiel zum Anteil von Heiraten innerhalb des Patrizierkreises–mit Daten von anderen Patrizierfamilien in Vergleich zu setzen. Diese gelungene historische Einbettung macht das Buch zu einer bereichernden Lektüre auch für Leserinnen und Leser, die nicht von Graffenried heissen und sich ein Bild über Bern zwischen 1300 und 2000 verschaffen wollen.

Zitierweise:
Birgit Stalder: Rezension zu: Braun, Hans: Notabeln, Patrizier, Bürger. Geschichte der Familie von Graffenried. Bern: Stämpfli 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 57-59.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 57-59.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit