A. Blatter: Wylerhüsli

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Titel
Wylerhüsli. Legendäres Arbeiterquartier im Berner Wylerfeld


Autor(en)
Blatter, Andreas
Erschienen
Münsingen 2001: Andreas Blatter
Anzahl Seiten
120 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Lüthi, Universitätsbibliothek Bern

Die Stadt Bern errichtete 1889 – 1892 auf dem Wylerfeld eine Siedlung mit rund 100 Wohnungen für arme Familien, um die herrschende Wohnungsnot zu lindern. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte das bauliche Wachstum der Stadt mit der Bevölkerungszunahme nicht mithalten können. Deshalb fehlte es insbesondere an günstigem Wohnraum. 1888 änderten die politischen Mehrheitsverhältnisse von einer konservativen Stadtregierung zu einer reformorientierten Koalition von Freisinn und Sozialdemokraten. Diese realisierten innerhalb weniger Jahre wichtige sozialreformerische Projekte. Dazu gehörte auch der erste gemeinnützige Siedlungsbau einer Schweizer Stadt. Die zweistöckigen Häuser im Wylerfeld umfassten kleine Wohnungen mit einer Küche, zwei Zimmern und einem Estrich. Die Toiletten befanden sich ausserhalb der Gebäude. Erst ab 1914 verfügten die Wohnungen über einen Wasser- und einen Gasanschluss. Bis dahin musste das Wasser an Brunnen auf der Strasse geholt werden, und gekocht wurde auf Holzherden. 1955 – 1972 ersetzte die Stadt die Häuschen durch vierstöckige Wohnblocks sowie vier Hochhäuser mit insgesamt 400 Wohnungen, die Badezimmer, Kanalisationsanschluss, Zentralheizung und grössere Wohnflächen boten.

Der Pressefotograf Andreas Blatter wuchs im Wylerfeld auf und erlebte als Kind, wie die alte Siedlung in den 1950er-Jahren abgerissen wurde. Er stand bis in die Gegenwart in Kontakt mit Quartierbewohnern und recherchierte in Archiven und in privaten Sammlungen nach Fotos und weiterem Material zur Geschichte der Wylerhüsli. Das Ergebnis ist ein mit Anekdoten gespicktes Buch, das die Geschichte eines Berner Stadtquartiers dokumentiert, das so nicht mehr existiert.

Blatter geht auf die Entstehungsgeschichte der Siedlung Wylerfeld ein und schildert das Alltagsleben im Quartier sowie das Verhältnis der Quartierbewohner zu ihrem Umfeld. Besonders die historischen Fotos lassen nachvollziehen, wo sich die abgerissenen Häuser befanden und wie sie bewohnt wurden. Fotos von Innenräumen illustrieren die bescheidene Lebensweise der Menschen in diesem Quartier. Eine Tabelle zeigt zudem, wie viele Personen 1894 in jeder Wohnung lebten: In den zwei Zimmern wohnten vorwiegend Familien mit vielen Kindern. Sehr oft war auch ein Zimmer an weitere Personen untervermietet, so dass bis 15 Menschen pro Wohnung gezählt wurden Die Hausordnung von 1892 hielt die Bewohner an, sich «ausserhalb der Wohnung ruhig, anständig und friedfertig zu betragen». (26) Die Zimmer waren täglich zu reinigen und zu lüften. Kaninchen- und Hühnerställe waren im Keller und vor den Stubenfensternnicht erlaubt. Dies zeigt, welche heiklen Fragen es im Alltag zu regeln galt.

Da viele Familien hier wohnten, die von der Sozialfürsorge unterstützt wurden, mussten die Kinder schon früh etwas zum Verdienen beitragen. Viele Menschen lebten am Existenzminimum und hungerten phasenweise. Gelegenheitsdiebstähle von Früchten und Gemüse in benachbarten Gärten waren keine Seltenheit. All dies führte dazu, dass das Quartier einen schlechten Ruf hatte. Sogar die Genossenschaftssiedlung Wylergut, die 1943 – 1947 jenseits der Bahnlinie am Aarehang entstand, versuchte sich von der Bewohnerschaft des Wylerfeldes abzugrenzen. Im Wylergut (Wylerdörfli) lebten Angestellte des Bundes, die als Eigentümer oder Mieter hier eingezogen waren.

Die Entbehrungen im Alltag und die Stigmatisierung als Armeleutequartier förderten das Zusammenhörigkeitsgefühl der Wylerfeldbevölkerung. Dies kommt bei Aussagen der befragten Personen zum Vorschein, die sich bis heute mit ihrem Quartier identifizieren. Von 1952 bis 1997 trafen sich die «Wylergiele» alle drei Jahre im Restaurant Jardin, um bei Essen und Musik in vergangenen Zeiten zu schwelgen.

Zitierweise:
Christian Lüthi: Rezension zu: Blatter Andreas: Wylerhüsli. Legendäres Arbeiterquartier im Berner Wylerfeld. Münsingen: A. Blatter 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 50-51.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 50-51.

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