J.-C. Kaiser: Politischer Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert

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Titel
Politischer Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, hg. von Rolf-Ulrich Kunze/Roland Löffler


Autor(en)
Kaiser, Jochen-Christoph
Reihe
Studien zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 1
Erschienen
Konstanz 2008: UVK Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Metzger, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Als Festgabe zum 60. Geburtstag des Marburger Kirchenhistorikers Jochen-Christoph Kaiser haben Rolf-Ulrich Kunze und Roland Löffler eine Sammlung ausgewählter Arbeiten des Jubilars zur kirchlichen Zeitgeschichte herausgegeben. Der vorliegende Band will einen repräsentativen Querschnitt durch das Werk Kaisers, der Kirchengeschichte der neuesten Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Diakoniegeschichte und der historischen Genderforschung am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg lehrt, geben. Schwerpunkte bilden der politische Protestantismus und das protestantische Milieu, Wissenschafts- und Religionspolitik sowie Verbands-, Frauen- und Forschungsgeschichte. Die Mehrheit der vorliegenden Texte wurden von Kaiser zwischen der Mitte der 1990er Jahre und 2007 publiziert. Der älteste Artikel stammt aus dem Jahr 1982. Komplett ausgeklammert wurden die umfassenden Arbeiten Kaisers zur Diakoniegeschichte, da zentrale Beiträge aus diesem Forschungsfeld durch Volker Herrmann in einer zweiten Festgabe zusammengetragen wurden (Jochen-Christoph Kaiser, Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Volker Herrmann, Stuttgart, Kohlhammer, 2008).

Der Band gruppiert die ausgewählten Arbeiten Kaisers in vier thematische Kapitel. Diesen vorangestellt sind das Vorwort Rolf-Jürgen Gleitsmanns sowie einleitende Bemerkungen und Anmerkungen der Herausgeber, die Kaiser als Neuzeithistoriker und evangelischen Kirchenhistoriker würdigen. Das erste thematische Kapitel ist theoretischen Fragen der Protestantismusforschung sowie der Wissenschafts- und Forschungsgeschichte gewidmet. Der 2007 erstmals publizierte und somit neueste Beitrag im vorliegenden Band widmet sich dem politischen Protestantismus. Zum einen bietet er einen Überblick über Forschungsansätze und Begriffsdefinitionen, zum andern wendet er sich der Geschichte des politischen Protestantismus zu. Kaiser zeigt schlüssig auf, dass der Protestantismus im Deutschen Reich verstärkt zur Religion der staatstragenden Schichten wurde und sowohl Kirchenfunktionäre als auch Kirchenvolk von einer protestantischen Dominanz im Reich ausgingen. Weder ein protestantisches Sondermilieu im Sinne der Theorie von M. Rainer Lepsius noch das Bedürfnis nach einer spezifisch evangelischen Partei oder nach einem sich dezidiert als politisch bezeichnenden Protestantismus hätten sich deshalb im Kaiserreich gezeigt. Der Protestantismus sei ja, so Kaiser weiter, bereits auf allen Ebenen von Politik und Gesellschaft virulent gewesen und habe nicht erst als Programm formuliert und durch geeignete gesellschaftspolitische Gruppierungen umgesetzt werden müssen (36–37). In guter Ergänzung zu den Erkenntnissen des vorangegangenen Textes befasst sich auch der nächste Beitrag mit der Frage nach der Formierung eines protestantischen Milieus. Im Zentrum dieses Textes von 1996 steht die zunehmende konfessionelle Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert. Kaiser präsentiert hier eine Chronologie und Typologie konfessioneller Verbände. Für den deutschen Protestantismus zeichnet er die Entwicklung ausgehend von karitativen Vereinen und diakonischen Stiftungen – häufig pietistisch geprägt – über eine zunehmende Politisierung hin zum «Evangelischen Bund» als Beispiel einer Sammlungsbewegung nach. Während für das 19. Jahrhundert noch kaum – und wenn, dann nur im Falle der minoritären, teils freikirchlichen «Gemeinschaften» – von einem Milieu gesprochen werden kann, ändert sich dies nach 1918. Das Gefühl der Marginalisierung habe laut Kaiser Milieustrukturen und die Politisierung des deutschen Protestantismus gefördert (63). Diese hier etwas ausführlicher dargestellten theoretischen Beiträge liefern einen äusserst wertvollen Beitrag zur Geschichte des gesellschaftlichen und politischen Protestantismus in Deutschland, der auch zu komparativen Überlegungen betreffend Milieubildung, politischem Protestantismus, Vereinswesen usw. im Protestantismus anderer Länder einlädt.

Der Analyse von Wissenschaftspolitik anhand des Beispiels der Entstehung der «Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit» ist der dritte Beitrag in diesem Kapitel gewidmet. Er lieferte eine Periodisierung des Entstehungsweges dieser Institution und verweist auf die Bedeutung öffentlichkeitswirksamer, gesellschaftspolitischer Aussenimpulse für die Unterstützung von Forschungsprojekten durch politische Gremien im Allgemeinen. Den Abschluss dieses Kapitels macht ein Vortrag Kaisers aus dem Jahr 2002 zu den Forschungsaufgaben der kirchlichen Zeitgeschichte nach 1945. Kaisers Plädoyer für eine kirchliche Zeitgeschichte wird nicht nur hier, sondern im gesamten Band wiederholt sichtbar.

Das zweite Kapitel beinhaltet primär Beiträge Kaisers zur Verbandsgeschichte. So beleuchtet der Marburger Kirchenhistoriker im ältesten Artikel der Festgabe die Religionskritik der Sozialdemokratie am Beispiel der Kirchenaustrittsbewegung. Diese Bewegung war durch das spannungsgeladene Verhältnis zwischen ihrem linksliberal-bürgerlichen und ihrem sozialistischen Flügel gekennzeichnet. Nebst einer Periodisierung der Bewegung liefert der Artikel eine statistische Aufbereitung der Kirchenaustritte in Berlin und im Deutschen Reich. Als Austrittsmotive waren jedoch nicht in erster Linie politischideologische Überzeugungen ausschlaggebend, sondern vielmehr steuerliche Gründe und konkreter Ärger über Pfarrer. Mit dem «Evangelischen Bund» wendet sich Kaiser einer rechtskonservativen Pressure Group mit hohem Politisierungsrad zu. Von einer innerhalb des deutschen Protestantismus mitte-links positionierten Gruppierung in der Vorkriegszeit wandelte sie sich zu einer Organisation, die dem rechten bis äussersten rechten politischen Spektrum zuzuordnen ist. Die zunehmend völkisch orientierte Sammelbewegung «Evangelischer Bund» öffnete sich als erste Gruppe des deutschen Verbandsprotestantismus dem Nationalsozialismus.

Im frauengeschichtlich interessanten Beitrag zur Herausformung einer evangelischen Frauenbewegung um 1900 als Beispiel für die Politisierung des Verbandsprotestantismus wird der grosse Einfluss Adolf Stoeckers auf die Entstehung des «Deutsch-Evangelischen Frauenbundes» ersichtlich. Stoecker war es, der die damals aktuelle «Frauenfrage» – die er nicht als emanzipatorische, sondern als soziale Frage verstand – innerkirchlich wiederholt zur Diskussion stellte. Das «Frauenwerk der Deutschen Evangelischen Kirche» dient in einem weiteren Text als Beispiel für das Umgehen mit dem zur Zeit des Dritten Reiches auf dem Verbandsprotestantismus lastenden Druckes. Nicht verbandsgeschichtlich ausgerichtet ist Kaisers lesenswerter Beitrag zu Entstehung, Inhalt und Rezeption des vom liberal ausgerichteten Kirchenhistoriker Adolf Harnack 1900 publizierten Werkes Das Wesen des Christentums. Die Publikation dieser Schrift stellte ein eigentliches kulturelles Ereignis dar, und seine Öffentlichkeitswirkung war stark. Im kirchlichen Bereich nahm wohl kaum eine Zeitung oder Zeitschrift nicht Stellung zu dieser Schrift, wobei sich die positive respektive negative Rezeption durch die kirchenpolitischen Trennlinien bedingte. Ein weiteres Kapitel liefert Einblick in die Forschungen Kaisers zur Kirchengeschichte Westfalens. Zum einen thematisiert der Autor die preussische Kirchenpolitik im mehrheitlich katholisch geprägten Westfalen und erläutert die Struktur des regionalen Katholizismus und Protestantismus. Zum andern kommt er in einer Kombination aus Forschungsbericht und Sammelrezension auf die Forschung zur kirchlichen Zeitgeschichte in dieser Region Deutschlands zu sprechen.

Das letzte Kapitel des Bandes zu Ehren von Jochen-Christoph Kaiser wendet sich wieder der Thematik der Religionspolitik zu, wobei die DDR im Zentrum der beiden Beiträge steht. In einem ersten Artikel befasst sich Kaiser mit der ambivalenten Haltung der evangelischen Landeskirchen in der Sowjetischen Besatzungszone zur beginnenden Bodenreform. Von einer Enteignung des umfangreichen kirchlichen Bodenbesitzes wurde aus taktisch-machtpolitischen Gründen Abstand genommen. Im abschliessenden Beitrag analysiert der Kirchenhistoriker die Religionspolitik der KPD und der SED. Während die KPD in der Weimarer Republik keine Möglichkeit erhalten hatte, ihre religionspolitischen Konzeptionen umzusetzen, spielte die Religionspolitik nach der Kapitulation Deutschlands 1945 zunächst eine untergeordnete Rolle. Für die DDR und somit für die SED stellte die Religionspolitik in erster Linie ein Mittel der Machtgewinnung und Machterhaltung dar. Kaiser kommt zum Schluss, dass die DDR mit, aber nicht an ihrer Religionspolitik gescheitert sei, dass das starre Festhalten an alten antireligiösen Traditionen jedoch das Ende des Ostsstaates beschleunigt haben dürfte (351).

Die sehr verdienstvollen kirchengeschichtlichen Forschungen Kaisers, die sich durch eine sozial- und kulturgeschichtliche Herangehensweise vor dem Hintergrund eines profunden theologischen Wissens auszeichnen, erhalten durch die vorliegende Festgabe eine angemessene Würdigung. Die von Kunze und Löffler getroffene Textauswahl widerspiegelt die breitgefächerten Forschungsfelder des Jubilars, ohne die Fokussierung auf den politischen Protestantismus zu verlieren. Inhaltliche Redundanzen wurden weitestgehend vermieden, was ebenfalls für die Beitragsauswahl spricht. Etwas unpassend, da mittlerweile mehr als 15 Jahre alt, mag allenfalls die Aufnahme des Forschungsberichts zur kirchlichen Zeitgeschichte in Westfalen aus dem Jahre 1992 erscheinen. Der vorliegende Band ist dem kirchen- und konfessionsgeschichtlich interessierten Forscher sehr zu empfehlen.

Zitierweise:
Thomas Metzger: Rezension zu: Jochen-Christoph Kaiser, Politischer Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, hg. von Rolf-Ulrich Kunze/Roland Löffler (=Studien zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1), Konstanz, Universitätsverlag Konstanz, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 347-349.

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