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Titel
Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit


Autor(en)
Kruse, Britta-Juliane
Erschienen
Berlin 2007: de Gruyter
Anzahl Seiten
768 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hiram Kümper

Seit ihrer frühen Formierungsphase im Umfeld der Patristik hat die christliche Gesellschaftslehre Witwen als ein besonderer Stand wahrgenommen. Hatten die Kirchenväter noch mit Fragen der Keuschheit und der Wiederheirat gerungen, so sind es in der Hauptsache sehr viel irdischere Probleme des Witwenstandes, die in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten diskutiert wurden. Witwen wurden als Teil einer sozialen Gruppe wahrgenommen, die durch sehr spezifische Regeln, Deutungen und Repräsentationen, durch normative und – vor allem – präskriptive Entwürfe durchdrungen wurde. Nach dem Ausfall der zentralen sozialen Bezugsgrösse, dem Ehemann, mussten für die Frau und durch die Frau neue gesellschaftliche Bezüge geschaffen und geregelt werden. Diesem sozialgeschichtlich wichtigen Komplex hat sich Britta-Juliane Kruse in ihrer betont interdisziplinär angelegten Berliner Habilitationsschrift angenommen.

Die Quellenbasis ist ausgesprochen breit: Neben didaktischen Traktaten und Erbauungsschriften werden auch Gebetbücher, Leichenpredigten und Ego-Dokumente herangezogen; einige dieser Schriften sind bisher kaum oder gar nicht näher betrachtet worden. Auch Bildmaterial wird ausgewertet. In diesem breiten Spektrum, dessen solide Aufarbeitung gute Anschlussstellen für spätere Forschungen aufzeigt, besteht die erste grosse Stärke dieser Arbeit. Zu solcher Nutzbarkeit tragen auch die Inhaltsangaben, Regesten und Archivverzeichnisse bei, die Kruse immer wieder im Text oder aber in separierten Anhängen dem Leser bereitstellt. Teilweise kann dieses Bemühen um Anschlussfähigkeit, wohl auch für andere, nicht genuin historische Disziplinen, etwas übertrieben erschienen – so mag sich mancher Frühneuzeitforscher etwa wundern, wenn ihm noch eine lexikalische Erklärung für das doch wohl als bekannt voraussetzbare Phänomen «Kameralismus» geboten wird (209–210), und (nicht nur) der Mediävist die Betonung, dass für Archivarbeit paläographische Übung nötig sei («oft nur für das geübte Auge entzifferbare Schriftstücke», 8) als in einer wissenschaftlichen Arbeit obsolet empfinden. Nichtsdestoweniger aber sind Kruses Bemühungen, disziplinäre Esoterik zu durchbrechen und für ein breiteres kulturwissenschaftliches Publikum zu schreiben, grundsätzlich und vor allem einmal ausgesprochen löblich.

Die zweite grosse Stärke dieser Arbeit ist die betonte Herausarbeitung von Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit. Die Frömmigkeitsgeschichte hat eine solche enge Zusammenarbeit zwischen den Teilepochen zwar seit den letzten beiden Jahrzehnten mittlerweile gut eingeübt, gerade aber – und das betont Kruse (643–654) zu Recht – die Sexualitäts- und Geschlechtergeschichte tut sich mit diesem disziplinären Brückenschlag manchmal noch etwas schwer.

Der deutlich spürbare regionale Fokus von Kruses Studie liegt in Nürnberg, obwohl auch andere Städte und Regionen mit einbezogen werden. Wohl auch deshalb scheint die Arbeit im engeren Wortsinne bürgerlich: Adlige Witwen und vor allem deren Schriften (z.B. das bemerkenswerte Trostbüchlein Herzogin Elisabeths von Braunschweig-Lüneburg) werden hier und da mit einbezogen, die bäuerliche Witwe fällt im Grunde gänzlich aus der Betrachtung heraus. Die Einbindung der verwitweten Frau in ländliche Familienkontexte freilich hätte auch noch einmal eine eigene, ganz anders angelegte Arbeit verdient, die auf ganz anderen Quellen aufbauen müsste.

Zitierweise:
Hiram Kümper: Rezension zu: Britta-Juliane Kruse, Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, Walter de Gruyter 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 310-311.

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