S. Redlich: Jüdische Geschichte

: Together and Apart in Brzezany. Poles, Jews, and Ukrainians, 1919–1945. . Bloomington 2002 : Indiana University Press, ISBN 978-0-253-34074-0 224 p.

: Längst nicht mehr koscher. Die Geschichte einer Familie. Wien 2006 : Czernin Verlag, ISBN 3-7076-0208-7

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann

Zwei Annäherungen an die Vergangenheit. Shimon Redlich ist Historiker für osteuropäisches Judentum an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva (Israel) und wurde 1935 in Brzez˙any geboren. In den 1990er Jahren kehrte er in diesen Ort in Galizien südöstlich von Lemberg zurück, der heute zur Ukraine gehört. Sein Buch ist eine faszinierende Mischung aus Erinnerungen, Suche nach mündlichen und schriftlichen Zeugnissen sowie wissenschaftlicher Analyse. Redlich arbeitet heraus, wie sich nach dem Ersten Weltkrieg, als Erbe der Habsburger Zeit, wiederum ein labiles Kommunikationsgefüge zwischen Polen, Ukrainern und Juden herausbildete. Die Polen dominierten, alle drei Gruppen waren stark auf sich be zogen, aber es gab durchaus, teilweise sogar intensive, interkulturelle Kontakte. Trotz gegensätzlicher Interessen und Konflikte herrschte keineswegs die Konfron tation vor. Das änderte sich mit der sowjetischen Besetzung des Ortes 1939. Die Folgen waren für die Polen und Ukrainer zunächst schlimmer als für die Juden. Diese hatten dann unter den Deutschen ab 1941 mehr zu leiden. Doch auch eine Anzahl Ukrainer steigerte sich – vorgeblich aus Rache für die Ermordung von Ukrainern durch «jüdische Bolschewisten», mit denen die sowjetische Geheim polizei identifiziert wurde, – in einen blutigen antijüdischen Pogrom hinein und beteiligte sich an den Massenerschiessungen der Juden. Das labile Kommunikationsgefüge, das «vertraut und fremd zugleich» zwischen den drei – durchaus nicht homogenen – Gruppen herrschte, zerbrach. Misstrauen und Gewalt kennzeichneten nun die gegenseitigen Beziehungen. Bitter stellt Redlich fest: Die meisten Polen und Ukrainer überlebten den Zweiten Weltkrieg, jedoch kaum einer der Juden. Immerhin fand er jenseits der ethnisch-konfessionellen Grenzen auch Zeichen der Humanität, der Hilfe für die Verfolgten – auch er selbst war zunächst von einer polnischen Familie versorgt und dann von einer ukrainischen Bäuerin versteckt worden. Das Buch besticht durch die gelungene Verbindung der Zeitebenen über die unterschiedlichen Quellen – die eigene Erinnerung, die Erinnerungen von Zeitzeugen, die archivalischen Materialien – und durch die Verbindung von Sichtweisen: Redlich stellt die Vorgänge jeweils aus der Perspektive von Vertretern der drei Gruppen dar und reflektiert dazu seinen eigenen Blick. Dadurch entsteht ein ungemein dichtes und vielschichtiges Bild der Lebenswelten in Brzez˙any. Zugleich wird nachvollziehbar, warum die Gemeinsamkeiten des Zusammenlebens dem Druck nicht standhielten, warum die Brutalität der Besatzer auch die gemeinen und brutalen Seiten vieler Bewohner zum Vorschein brachte. Diese Studie sollte Schule machen.

Völlig anders, aber nicht weniger faszinierend, geht Claudia Erdheim an die Geschichte einer Familie heran, die ihre Familie ist. Das Buch ist das Ergebnis jahre-, wenn nicht jahrzehntelanger Nachforschungen und beruht auf einer Vielzahl von Quellen. Claudia Erdheim verzichtet allerdings vollständig auf deren Nachweis, sondern erzählt auf deren Grundlage spannend geschriebene Ausschnitte aus dem Leben der Familienmitglieder. Dazwischen sind Nachrichten aus Zeitungen und anderen Quellen eingestreut. Die Geschichte setzt ein mit Moses Hersch Erdheim, der 1866 in Boryslaw – auch in Galizien, südwestlich von Lemberg – ein Stück Land erwirbt und dadurch in die dortige Erdöl- und Erdwachsförderung einsteigt. Und sie endet im August 1945 in Wien, wo Tea Erdheim, die die Verfolgungen überlebt hat, ihren Lebensgefährten, den Kommunisten Lenz, heiraten kann. Dazwischen liegt der Weg einer Familie, in dem sich die Entwicklung des Judentums in diesem Teil Osteuropas spiegelt: das Leben im Schtetl und in Wien, die Spannungen zwischen den verschiedenen religiösen und politischen Richtungen, das Verhältnis zur nichtjüdischen Bevölkerung, das Vordringen des Antisemitismus, die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, die Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen nach 1918 bis hin dann zum Grauen der Verfolgungen von Juden, aber auch von Sozialdemokraten und Kommunisten – all das wird vor uns lebendig.

Teilweise werden in beiden Büchern die gleichen Vorgänge thematisiert, etwa die Pogrome von Ukrainern gegen Juden. Gemeinsam ist ihnen weiterhin, dass an ihrem Beispiel das Problem der Fiktionalität von Geschichtsschreibung erörtert werden kann. Redlich zeigt, wie der Historiker die Fragmente der Erinnerungen und der schriftlichen Zeugnisse miteinander verbindet. Da die Wirklichkeit nicht als vollständiges Abbild rekonstruiert werden kann, sind dabei immer fiktive Elemente im Spiel. Die Philosophin und Schriftstellerin Erdheim spitzt diese Problematik zu, indem sie die Lücken in den Quellen durch romanhafte Erzählungen schliesst (und die Leserin und den Leser im Unklaren lässt, auf welche Quellen sie sich bis zu welchem Punkt stützt). Auf diese Weise sind beide Bücher – über ihr Thema hinaus – für Historikerinnen und Historiker von höchstem Interesse.

Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension zu: Shimon Redlich: Together and Apart in Brzezany. Poles, Jews, and Ukrainians, 1919–1945. Bloomington/Indianapolis, Indiana University Press, 2002. Claudia Erdheim: Längst nicht mehr koscher. Die Geschichte einer Familie. Wien, Czermin Verlag, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 494-495.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 494-495.

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