A. Fischer: Auswirkungen der Internationalisierung

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Titel
Die Auswirkungen der Internationalisierung und Europäisierung auf Schweizer Entscheidungsprozesse. Institutionen, Kräfteverhältnisse und Akteursstrategien in Bewegung


Autor(en)
Fischer, Alex
Reihe
Politikanalyse – Analyse des Politiques Publiques 5
Erschienen
Zürich 2005: Rüegger Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Gees

Die vorliegende Dissertation ist im Rahmen des Nationalfondsprojekts «The Swiss Decision Making System in the Era of Globalization» entstanden. Die politikwissenschaftliche Publikation rechtfertigt die Anzeige in einer historischen Zeitschrift, weil sie sich systematisch anhand von drei Fallstudien mit den Entscheidungsprozessen in der Schweizer Demokratie beschäftigt und damit auch für politikgeschichtlich arbeitende Historikerinnen und Historiker äusserst inspirierende Hypothesen aufstellt und diese ausführlich diskutiert.

Insbesondere für die Schweizer Zeitgeschichte von Interesse ist die Frage, inwieweit der beobachtbare Prozess der Internationalisierung und Europäisierung Einfluss auf den Entscheidungsprozess und damit auf die handelnden Akteure (Parteien, Verbände, Regierung und Administration, Regulierungsbehörden und Gerichte) im politischen System Schweiz ausübt. Ausgehend von einem Wirkungsmodell, an dessen Beginn ein Internationalisierungsprozess steht, fragt der Autor, welche Kräfte auf den (innenpolitischen) Entscheidungsprozess einwirken und damit das Ergebnis am Ende beeinflussen. Konkret etwa: welche Möglichkeiten bieten sich dem Parlament oder den Verbänden, Einfluss auf die Aushandlung und Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrags zu nehmen? Was bedeutet die zunehmende Internationalisierung (aktuelles Stichwort: Völkerrecht vs direkte Demokratie) für das agenda setting in der politischen Auseinandersetzung? Wer verliert und wer gewinnt letztlich in diesem Spiel? Ausgehend von der Literatur über die Internationalen Beziehungen stellt Fischer ein gutes Dutzend Hypothesen auf, welche er dann anhand von drei Fallbeispielen aus den 1990er Jahren testet. Die Fallbeispiele sind geschickt ausgewählt und erlauben differenzierte Aussagen. Fischer unterscheidet nämlich zu Recht zwischen einer direkten Internationalisierung und einer indirekten. Als Beispiel für den ersten Fall nimmt er den Vertrag über die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union, der im Mai 2000 in der Volksabstimmung zusammen mit den innenpolitisch ausgehandelten flankierenden Massnahmen angenommen wurde. Exemplarisch für die indirekte Internationalisierung steht die grosse Reform in der Schweizer Telekommunikationspolitik ebenfalls seit Mitte der 1990er Jahre, als sich die Behörden sehr eng an den EU-Normen orientiert haben, ohne dass aber in diesem Politikbereich ein Abkommen zwischen der Schweiz und der EU einen Anlass für diese Liberalisierungsoffensive geboten hätte. Als drittes Fallbeispiel wird ein Kontrastfall aus der Sozialpolitik diskutiert, von dem man vermuten kann, dass keine Einflüsse von aussen auf den Entscheidungsprozess eingewirkt haben. Konkret handelt es sich um die 11. AHV-Revision zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Insbesondere die Auseinandersetzung mit der indirekten Internationalisierung / Europäisierung erscheint mir für die Schweizer Geschichte ein bemerkenswertes Potential für weitere Fragestellungen aufzuweisen. Zwar beschreibt der Verfasser in der hier untersuchten Periode vor allem Marktöffnungs- und Liberalisierungsprozesse, welche Ausdruck des gemeinsamen Binnenmarktes sind. Nachdem 1992 die weitere Integration in diesen Binnenmarkt vorerst mit der Ablehnung des EWR-Vertrags gescheitert war, begann ein reger Verhandlungsmarathon zwischen Bern und Brüssel, der fortan den Zeitgenossen die Augen für diese europäischen Einflüsse geöffnet hat. Was an indirekter Europäisierung allerdings bereits vor 1992 zu verzeichnen ist, allenfalls auch schon im 19. Jahrhundert stattgefunden hat, wird von den Historikerinnen und Historikern nur selten gewürdigt, weil diese Prozesse im Quellenstudium erst auf den zweiten Blick sichtbar werden. Die Ansätze werden in jüngster Zeit unter dem Stichwort «Transnationale Geschichte» lebhaft debattiert (vgl. etwa http://geschichte-transnational.clio-online.net/) und eröffnen der Nationalgeschichtsschreibung klassischen Stils interessante Perspektiven. Dieser transnationale Ansatz, der unter den Oberbegriffen Globalisierung, Internationalisierung oder eben Europäisierung die Beziehungen und den Einfluss globaler Prozesse auf lokale, regionale und nationale Entwicklungen erforschen will, setzt Wirtschaft, Politik, soziale Beziehungen und Kultur in räumlich grössere Zusammenhänge.

Welches sind nun die Ergebnisse für die allerjüngste Zeit? Hat die nähere Heranführung der Schweiz an die europäischen Institutionen und die Orientierung an deren Zielsetzungen den politischen Akteuren neue Handlungsspielräume ermöglicht? Ist es zu einer Verlagerung des politischen Einflusses gekommen, weg etwa von den typisch «einflussreichen» Verbänden hin zu andern Akteuren? Fischer kommt zu äusserst differenzierten Ergebnissen: auch wenn die Regierung und die Verwaltung sowohl bei direkten und indirekten Europäisierungsprozessen ihre Gestaltungsmöglichkeiten klar ausbauen konnten, so haben die Verbände und Parteien, aber auch das Parlament nach wie vor viele Interventionsmöglichkeiten, den politischen Prozess mitzubestimmen oder gar zu blockieren. So versteht man den Bundesrat, wenn er mögliche politische Hindernisse bei der Personenfreizügigkeit mit Kompensationszahlungen an die Gewerkschaften (flankierende Massnahmen) aus dem Weg geräumt hatte. Kompensationszahlungen sind allerdings nur möglich, so Fischer, wenn die einzelnen Veto-Players lediglich einzelne Aspekte einer Vorlage ablehnen und nicht generell gegen eine Vorlage sind. Umgekehrt kann man festhalten, dass einer politischen Kraft um so mehr Konzessionen abzugewinnen sind, je stärker diese eine Vorlage befürwortet. Interessant für Kritiker von internationalen/europäischen Vorlagen ist deshalb nicht nur das konkrete Anliegen eines Vertrages, sondern die institutionellen Möglichkeiten, welche sich mit der konkreten Umsetzung eröffnen.

Das Entscheidungssystem der Schweiz insgesamt, resümiert Fischer, habe sich anpassunsgfähiger gegenüber internationalen Entwicklungen erwiesen, als dies bisher in zahlreichen Publikationen über die angebliche Schweizer Reformblockade behauptet wurde. Allerdings sind die Grenzen der Anpassungsfähigkeit bei der Frage eines allfälligen EU-Beitritts erreicht, weil hier keine Kompensationsmöglichkeiten bestehen, bzw. diese viel zu teuer wären. Schaut man noch etwas weiter in die Vergangenheit zurück, ist Fischer aber zuzustimmen, dass im vorparlamentarischen Prozess die Administration ihre Stellung ausbauen konnte, die informelle Beziehungen zu den klassischen referendumsfähigen Akteuren stets intensiv gepflegt hat. Abschliessend lässt sich festhalten, dass die Stärken der Untersuchung gleichzeitig deren Schwächen sind. Die äusserst differenzierten Antworten des Autors zeigen zwar, dass sich der Prozess der Entscheidfindung bei europäisierten Vorlagen tatsächlich verändert hat, doch lässt sich nach wie vor nicht genau bestimmen, wer wieviel an Einfluss zu gewinnen oder eben zu verlieren hat.

Zitierweise:
Thomas Gees: Rezension zu: Alex Fischer: Die Auswirkungen der Internationalisierung und Europäisierung auf Schweizer Entscheidungsprozesse. Institutionen, Kräfteverhältnisse und Akteursstrategien in Bewegung. Politikanalyse – Analyse des Politiques Publiques (Band/Vol. 5), Zürich, 2005.Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 484-486.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 484-486.

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