D. Loew (Hg.): Olgas russische Reisen

Cover
Titel
Olgas russische Reisen. Tagebücher einer jungen Frau aus den Jahren 1889 und 1893


Herausgeber
Loew, Dieter
Erschienen
Zürich 2008: Editions à la Carte
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann

Am 27. Juni 1889 trat die 18-jährige Olga Winnecke in Strassburg eine Bahnreise an, die sie für mehrere Monate zu ihrer russisch-deutschen Verwandtschaft im Zarenreich, nach St. Petersburg, Finnland und Estland führte. 1893 wiederholte sie diese Reise. Was sie erlebte, notierte sie in ihrem Tagebuch. Ihr Enkel, der Basler Dieter Loew, stiess 2003 im Familienarchiv auf dieses Tagebuch und entschloss sich nach der Lektüre, es herauszugeben. Er ergänzte es mit einem ausführlichen Kommentar zu den Tagebuchnotizen sowie zu den Verhältnissen in Russland, mit Erinnerungen von Olgas Bruder August und ihrer Französisch-Gouvernante in St. Petersburg, Florence Chavannes, mit Briefen von Olga und von ihren russischen Verwandten sowie mit Berichten über eine Reise, die er selbst mit seiner Frau Monica Loew-Frey 2006 zu den Schauplätzen des Tagebuches unternommen hat. Herausgekommen ist ein ausgesprochen lesenswertes Buch.

Olga Winnecke wurde am 22. April 1871 in Karlsruhe geboren. Ihr Vater, ein Pfarrerssohn, wurde Astronomieprofessor in Strassburg und starb dort 1897. Ihre Mutter stammte aus einer deutsch-russischen Familie. 1895 verlobte sich Olga mit dem Basler Hans Löw und folgte ihm dann auf eine Pfarrstelle zunächst in Langenbruck, später in seiner Heimatstadt. 1952 ist sie in Basel verstorben. Im ersten Tagebuch schreibt Olga jede Einzelheit ihres Tagesablaufs auf, beinahe ohne jegliche Reflexion. Das ist im zweiten anders. Hier berichtet sie meist nur die ihr wesentlich erscheinenden Vorgänge und ergänzt sie mit eigenen Überlegungen. Wir erhalten einen dichten Einblick in die Lebenswelten der wohlhabenden Oberschicht im zaristischen Russland, in den Alltag von Grossbürgern und Adligen.

Die Tage verlaufen wohlgeordnet und behütet, gegliedert durch die Essenszeiten, Ausflüge, Klavierspiel, Kaffee- und Abendgesellschaften, den sonntäglichen Kirchgang sowie die regelmässigen Morgen- und Abendandachten. Viel erfahren wir von den Verhaltensweisen der Menschen, in deren Kreisen sich Olga bewegt, wenig hingegen über das Leben der russischen Mittel- und Unterschichten. Eher zufällig sind entsprechende Bemerkungen, so wenn Olga vom Besuch in der – auch während der Sowjetzeit berühmten – Petersburger Fabrik ihres Onkels Gustav Heyse «Treugol’nik» («Dreieck») berichtet, in der Gummischuhe hergestellt werden: 3000 Frauen und Männer sind angestellt; eine Frau produziert, «wenn sie fleissig ist», an einem Tag 15 bis 20 Paar Schuhe und verdient dabei einen Rubel (S. 189). In einem Brief einer Verwandten von 1912 lesen wir zusätzlich, dass in der Fabrik täglich 45 000 Paar Gummischuhe erzeugt werden und dort beachtliche Wohlfahrtseinrichtungen für die Beschäftigten bestehen, darunter eine Kinderkrippe (S. 253).

Nebenbei werden wir über das Umfeld unterrichtet, das Olga erlebt: etwa über die damaligen Verkehrs- und Transportmöglichkeiten, die Architektur in den Städten, die Landschaften, die Olga sieht, die Speisen, Gesellschaftsspiele und Tänze, die damals üblich waren, den Ablauf von Festen, Krankheiten und ihre Behandlung. Olgas Weltbild ist, wie auch der Herausgeber vermerkt, vertikal ausgerichtet: Sie verehrt die Kaiserhäuser, fühlt sich in ihrer Welt wohl und schaut auf die Dienstboten herab. Ein wirkliches Interesse an deren Angelegenheiten oder an den Lebensverhältnissen anderer Schichten in Russland ist nicht spürbar. Problemlos kann sie sich im Übrigen in Deutsch verständigen. Das liegt nicht nur daran, dass sie sich vorwiegend in ihrer Verwandtschaft bewegt. Damals beherrschten auch die meisten Angehörigen der russischen Oberschicht diese Sprache. – Insgesamt ist mit diesem Buch ein bemerkenswertes Selbstzeugnis und eine wichtige historische Quelle zugänglich geworden.

Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension zu: Olgas russische Reisen. Tagebücher einer jungen Frau aus den Jahren 1889 und 1893. Hg. von Dieter Loew. Zürich, Editions à la Carte, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 4, 2009, S. 479-480.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 4, 2009, S. 479-480.

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