Ortsgeschichte der Landstadt Sursee

: Sursee - Die zweite Kapitale des Kantons Luzern. Zur politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschichte der Luzerner Landstadt in den Jahren 1798 bis 1871. Basel 2006 : Schwabe Verlag, ISBN 978-3-7965-2156-0 544 S.

: Wenn hier Orts eine solche Fabrike errichtet würde, es für niemand zum Nachtheil wäre. Die Luzerner Landstadt Sursee und die Fabrikindustrialisierung 1870 bis 1910.. Sursee 2005 : Stadtarchiv Sursee, ISBN 3-9520856-6-9

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Lüthi, Universitätsbibliothek Bern

Mit ihrer Dissertation und ihrer Lizentiatsarbeit, die beide an der Universität Basel entstanden sind, legt Andrea Willimann zwei Bände zur Ortsgeschichte der Landstadt Sursee im 19. Jahrhundert vor. Die Dissertation, die in der Reihe «Luzerner Historische Veröffentlichungen» erschienen ist, deckt den Zeitraum ab vom Ende des Ancien Régime 1798 bis zur Etablierung einer dauerhaften konservativen Regierung im Kanton Luzern 1871. Die bereits 1998 eingereichte Lizentiatsarbeit behandelt die Industrialisierung der Stadt 1870–1910. Die Arbeit ist in der Publikationsreihe des Stadtarchivs Sursee erschienen und erreicht damit eine breitere Leserschaft. Das Archiv dieser Kleinstadt entwickelt erstaunlich viele Aktivitäten, die weit über die Region hinausstrahlen.

Die Periodisierung der Dissertation folgt der politischen Geschichte. Die gut sieben Jahrzehnte von 1798 bis 1871 waren für Sursee eine Übergangszeit vom Ancien Régime in die Moderne. Die Autorin legt den inhaltlichen Schwerpunkt auf die politische Geschichte; sie schildert in chronologischer Reihenfolge die Etappen der Kantonsgeschichte aus der Perspektive von Sursee. Im Anhang porträtiert sie ausserdem in einer «Personengalerie» rund 60 Persönlichkeiten, welche die Stadt in dieser Zeit prägten.

In Teil 2 beschreibt Willimann Sursee im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Munizipalstadt zählte um 1800 rund 1000 Einwohnerinnen und Einwohner; seit dem Mittelalter genoss sie ein grosses Mass an rechtlicher und ökonomischer Eigenständigkeit. Sie war wichtigster Marktort der Luzerner Landschaft und Etappenort an der Gotthardroute. Die selbstbewusste bürgerliche Oberschicht legte Wert auf eine gute Bildung, die regierenden Familien waren mit dem Patriziat der Stadt Luzern verwandtschaftlich verbunden.

Teil 3 behandelt die Periode 1798 bis 1830. Der Umsturz von 1798 bedeutete für Sursee die Degradierung zu einer einfachen Landgemeinde ohne rechtliche Privilegien. Es dauerte bis in die 1820er-Jahre, bis sich Sursee mit neuem Selbstbewusstsein wieder eine bedeutendere Stellung innerhalb des Kantons Luzern erkämpfte. 1830/31 gingen entscheidende Impulse zum liberalen Umsturz von der Landstadt aus. So versammelten sich im November 1830 rund 1500 Männer in Sursee, die den Sturz der konservativen Regierung in Luzern sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung verlangten. Zwischen 1830 und 1870 (dazu Teil 4) vermochten Männer aus Sursee die politischen Entwicklungen im Kanton Luzern wesentlich mitzuprägen. So wurde die Surenstadt auch als heimliche Kantonshauptstadt bezeichnet. Sie war immer dann am einflussreichsten, wenn sie politisch auf derselben Seite wie die Landschaft und in Oppostion zur Hauptstadt Luzern stand. Auf lokaler Ebene wechselten die Mehrheitsverhältnisse zwischen Liberalen und Konservativen mehrmals. Beide Lager waren in Sursee stark vertreten, und ab den 1850er-Jahren war auch das Vereinswesen in diese beiden politischen Blöcke gespalten.

Die entscheidenden Impulse, mit der die Stadt ihre Position als wichtigster zentraler Ort in der Luzerner Landschaft behaupten konnte, gingen von der Wirtschaft aus oder basierten auf politischen Entscheiden zum Ausbau der Infrastruktur. Dazu zählten der frühe Anschluss an das Eisenbahnnetz 1856 sowie der Ausbau des Wochenmarktes 1859 und der Schulen; ab 1822 existierte hier die erste Sekundarschule im Kanton. Damit festigte Sursee seine Stellung. Seine Zentrumsfunktion basierte nun nicht mehr auf rechtlichen Privilegien, sondern auf einer guten Verkehrslage und einem ausgebauten Dienstleistungssektor.

In Teil 5 greift die Autorin im Sinne einer Synthese das im Titel formulierte Thema der «zweiten Kapitale» im Kanton auf. Sie zeigt, dass es Sursee im 19. Und 20. Jahrhundert gelang, sich trotz politischem und ökonomischem Wandel als zweitwichtigste Stadt im Kanton Luzern zu behaupten. Etwas irritierend ist dabei der Begriff «Kapitale», mit der Sursee bereits im Titel bezeichnet wird. Diese Wortwahl basiert auf einem Text von 1934 des einflussreichen Politikers Heinrich Walther, der Sursee in historischer Perspektive als «Versailles» und «zweite Hauptstadt » des Kantons Luzern bezeichnete. Der Begriff Kapitale erinnert jedoch eher an Städte mit einer internationalen Ausstrahlung als an eine Kleinstadt, in der um 1900 bloss 2600 Menschen lebten.

Ganz zum Schluss verweist Willimann auf andere Städtepaare in der Schweiz, in denen die politischen Kämpfe des 19. Jahrhunderts ähnlich wie im Fall Luzern–Sursee verliefen. Sie verweist auf Zürich–Winterthur, Aarau–Zofingen, Solothurn–Olten und Bern–Thun. Dabei standen sich immer die Kantonshauptstadt und eine kleinere Stadt des entsprechenden Kantons gegenüber. In den Kantonen Zürich, Aargau und Bern war die Städtekonkurrenz allerdings komplexer, da weitere Kleinstädte im Spiel waren. Es wäre zweifellos interessant, diesen Städtevergleich weiterzuführen.

Die schön bebilderte Lizentiatsarbeit von Andrea Willimann ist wirtschafts- und sozialgeschichtlich ausgerichtet und beleuchtet die Zeit von 1870 bis 1910, als in Sursee die Industrialisierung einsetzte. In Teil 1 porträtiert die Autorin die Gesellschaft der Landstadt um 1870; Teil 2 geht auf die Wirtschaftsentwicklung von1800 bis 1870 ein. In der kleingewerblich geprägten Stadt bestanden viele Beziehungen zur Landwirtschaft, die das Umland dominierte. Da es in Sursee keine protoindustrielle Unternehmen gab und da nur geringe Wasserkräfte verfügbar waren, setzte die Industrialisierung erst spät ein. In Teil 3 geht die Autorin auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel zwischen 1870 und 1910 ein. Sie stellt dabei die Firmengeschichten der wichtigsten Industriebetriebe und die Akteure der Industrieansiedlung vor. Ein Unterkapitel geht zudem auf die Veränderungen ein, welche die Fabriken in der lokalen Bevölkerung auslösten. Die ersten Fabrikgründungen in Sursee ab 1825 waren nicht erfolgreich. Nach dem Anschluss ans Eisenbahnnetz geriet der Ort jedoch ins Blickfeld auswärtiger Unternehmer. Die Stadt war als Industriestandort interessant, da das Lohnniveau tief war und hier ein Arbeitskräftepotenzial brach lag. Die erste erfolgreiche Fabrik, eine Seidenstickerei, gründete 1859 der Zürcher Textilindustrielle Heinrich Hauser. Aus diesem Betrieb ging die spätere Firma Calida hervor. Der im 19. Jahrhundert erfolgreichste Industriebetrieb in Sursee war eine Ofenfabrik, die der Hafner Xaver Weltert 1872 gründete. Diese Firma wuchs ab 1890 schnell und beschäftigte 1909 über 350 Arbeiter. Ihre gusseisernen Öfen für Wohnräume wurden in die ganze Schweiz und ins Ausland verkauft. Die Fabrik schlitterte jedoch mehrmals in eine finanzielle Krise, die mit Hilfe der Gemeinde und lokaler Geldgeber überwunden werden konnte.

Entgegen dem allgemeinen Wirtschaftsverlauf geriet die Surseer Industrie zwischen 1900 und 1910 in Schwierigkeiten. Dies hatte bei einzelnen Firmen branchenimmanente Gründe. Doch Andrea Willimann führt diese Krise auch auf die Rolle der Gemeindebehörden zurück, die damals die Industrie weniger förderten als zuvor. Ausserdem näherte sich das Lohnniveau jenem in anderen Schweizer Industriegegenden, so dass die Stadt für Investoren an Attraktivität verlor.

Bemerkenswert an der Industrialisierung Sursees ist, dass sie in jenen Jahren erfolgreich war, als konservative Politiker die Stadt regierten. Trotz ihrer katholischkonservativen Grundhaltung setzte sich die Stadtregierung finanziell und bei der öffentlichen Infrastruktur aktiv für die Anliegen der Industrie ein. Bezüglich seiner wirtschaftlichen Entwicklung lässt sich demnach Sursee nicht mit dem von Urs Altermatt geprägten Begriff «katholisches Ghetto» bezeichnen. Die Autorin betont, dass diese Terminologie hier zu kurz greift.

In der Einleitung zur Dissertation formulierte Andrea Willimann das Ziel, den Stadt-Land-Gegensatz des 19. Jahrhunderts zu relativieren, indem sie die Zwischenstufe der Landstadt zum Untersuchungsgegenstand wählte. Diese Absicht knüpft an die Forschungergebnisse der beiden Schweizer Stadtgeschichtsspezialisten Bruno Fritzsche und François Walter an, die in ihren Publikationen wiederholt auf die Bedeutung der Kleinstädte in Politik und Wirtschaft hingewiesen haben. Die beiden Arbeiten zu Sursee liefern wichtige Erkenntnisse zur Geschichte einer katholisch geprägten Schweizer Kleinstadt und tragen dazu bei, eine historiografische Lücke zu füllen.

Zitierweise:
Christian Lüthi: Rezension zu: Andrea Willimann: Sursee – Die zweite Kapitale des Kantons Luzern. Zur politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschichte der Luzerner Landstadt in den Jahren 1798 bis 1871. Basel, Schwabe, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 3, 2006, S. 362-364.