Zahlen haben in der Bevölkerungs- wie in der Flüchtlingspolitik seit jeher eine wichtige Rolle gespielt. Mit Zahlen will man Wirklichkeit erfassen und abbilden. Zahlen sind gleichzeitig aber auch Ergebnisse von Wahrnehmung und Problemverständnis; Belege dessen also, was wir sehen wollen. Das zeigt Jean-Marie Le Goff in seiner kleinen Untersuchung zur schweizerischen Ausländerstatistik. 1949 war sie ganz auf die jährlichen Zulassungen fokussiert, 1999 dagegen auf die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung («stock de population»). In einer ersten Phase werden die Ausländer nur unter dem Aspekt der Arbeit und der Arbeitssektoren betrachtet; in einer zweiten Phase unter dem Aspekt der Integration. Während nichtschweizerische Statistiken die Ausländer eher nach Ethnien sortieren, steht in der schweizerischen Betrachtung die Sprache im Vordergrund. Die relativierende Betrachtung von Zahlenkonstrukten hätte wohl noch etwas weiter getrieben und zum Beispiel auch an den Konjunkturen der Einschätzung von Arbeits- und/oder Asylmigration als Problemgrössen aufgezeigt werden können.
Le Goffs Aufsatz findet sich in einem Band, mit dem das inzwischen abgeschlossene NFP 39 «Migration und interkulturelle Beziehungen» die historische Dimension berücksichtigen wollte. Hauptverfasser und Leiter des von rund zehn Sozialwissenschaftlern mitgetragenen Unternehmens war der früh verstorbene Hans Mahnig vom Schweizerischen Forum für Migration. Die meisten Beiträge wurden ohne Archivarbeit verfasst; Hauptquellen waren gedruckte Amtsschriften, das Année Politique und die NZZ. Die Synthesendarstellung kommt erstaunlicherweise ohne Einbezug wichtiger deutschsprachiger und historischer Werke (Braun, Halter, Buomberger etc.) aus.
Als Historiker hat Mauro Cerutti immerhin einen archivgestützten Beitrag über die Migrationspolitik der Jahre 1945–1970 geleistet. Hier erfährt man denn auch wirklich Neues. Etwa, dass man sich 1961 dafür aussprach, neben den Italienern als Konkurrenz auch Spanier ins Land zu holen – weil einzelne Italiener «den Kopf sehr hoch» hielten. Zudem würde im Fall der spanischen Arbeitskräfte nicht das Risiko bestehen, dass sie den Frankismus in die Schweiz importierten, während bei den Italienern dies mit dem Kommunismus sehr wohl der Fall sei. Zuvor wurden aber Italiener den Deutschen vorgezogen, weil man im Falle der Italiener wegen ihrer stärker ausgeprägten Heimatliebe damit rechnete, dass sie wieder nach Hause gehen würden. Schon zu Beginn der 1960er Jahre fielen die nach weiteren Arbeitsreservoirs Ausschau haltenden Blicke auf «entferntere Länder»: auf Griechenland und die Türkei, wobei doch auch die Frage der kulturellen Verträglichkeit und die Gefahr der Ausbeutung wegen mangelnder Ortskenntnis thematisiert wurde.
Die in den 1960er Jahren aufkommende Xenophobie richtete sich nicht gegen die Asyl-, sondern gegen die Arbeitsmigration. Nicht mit der nötigen Deutlichkeit wird gezeigt, dass die gewerkschaftliche Kritik Ende der 1950er Jahre der nationalkonservativen Fundamentalopposition gegen die so genannte Überfremdung vorausging. 1971 sprach sich die SPS für die Beibehaltung des Saisonnierstatuts aus, weil sie befürchtete, dass dessen Aufhebung zur «Entwicklungshilfe» für James Schwarzenbach würde. Anderseits erscheint Bundesrat Hans Schaffner 1964 als Warner vor der «grossen Illusion», weiterhin nur Arbeitskräfte «hineinzunehmen» und die Frauen, Kinder und Betagten draussen vor zu lassen. Die Darstellung bestätigt, dass die Asylpraxis bis 1973 grosszügig und trotzdem kein Problem war. Obwohl die erste Überfremdungs-Initiative bereits angerollt war, kam von dieser Seite 1968 kein Vorbehalt gegen die Aufnahme der rund 13 500 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei. Zu Recht stellen Lorena Parini und Matteo Gianni in ihrem Beitrag fest, dass es bis 1973 eine klare Trennung in der Einschätzung der Asyl- und Arbeitsmigration gab. Für 1973 fehlt aber eine Feinanalyse, welche das zeitliche Verhältnis zwischen dem Staatsstreich in Chile im September 1973 und dem Ölschock im Oktober/November 1973 geklärt hätte. Die grosse Zurückhaltung gegenüber den chilenischen Flüchtlingen war wohl weniger durch die einsetzende Wirtschaftskrise als durch die Tatsache bedingt, dass es sich – wie in den 1930er Jahren – um Flüchtlinge aus dem linken Lager handelte. Eine Konsultation der Akten des Bundesarchivs hätte hier weiteren Aufschluss gegeben.
Im Falle dieser kleinen Flüchtlingswelle meldeten sich nun aber die Exponenten der äusseren Rechten und argumentierten erstmals wieder – seit dem Zweiten Weltkrieg – mit dem Schreckbild der Überbevölkerung und der Beschäftigungskrise. Zudem sollten Staatsstreichopfer nicht zu leicht in den Genuss des schweizerischen Asyls kommen, hätte doch – so die Argumentation – auch in Italien mal ein Coup eintreten und der Schweiz eine Springflut («raz de marée») bescheren können. Damals wirkte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs noch ein wenig nach. Bundesrat Furgler beschwichtigte, man solle keine Angst haben, «das Boot ist noch nicht voll». Die aber nach dem Vorbild der Kriegsjahre lancierte private Freiplatzaktion wurde gestoppt, es hatten sich – wie schon 1942 – viel zu viele gemeldet, 1973 waren es rund 3000. Wieviel chilenische Flüchtlinge schliesslich aufgenommen wurden, erfährt man aus dieser Darstellung nicht (es waren ca. 1600, wobei anfänglich von 225 die Rede war). Die nächste «Welle» der vietnamesischen Boatpeople von 1979 (mit ca. 8200 Flüchtlingen, wobei anfänglich von 1000 die Rede war) wird völlig übergangen.
Die weiteren Ausführungen skizzieren die verschiedenen Konstellationen und Konjunkturen gemäss den von Parini und Gianni genannten Variabeln: der ideologischen Befindlichkeit, der realen Migrationsströme, der wirtschaftlichen Dynamik und des internationalen Kontextes, wobei in diesem Fall eher die Konstante der völkerrechtlichen Verpflichtungen gemeint ist. Durchgehendes Charakteristikum: Wechselnde Stimmungen («tonalités»), in der Ära Kopp die brüske Bereitschaft für eine pauschale Liquidation des Aktenbergs, dann wieder die schnelle Rückkehr zur Einzelprüfung der Dossiers.
In den 1980er Jahren kam es zu einer zunehmenden Vermischung in der Wahrnehmung der beiden Migrationstypen, wobei die früher ganz auf die Arbeitsmigration ausgerichtete Fremdenfeindlichkeit weitestgehend auf die Asylmigration überging, obwohl das Unbehagen zu einem grossen Teil aus dem anderen Sektor stammte. Für das, was trotz proklamierten Prinzipien und zahlreichen Positionspapieren zwangsläufig praktiziert wurde, tauchen im Text am Rande zwei sehr menschliche Begriffe auf: «pilotage à vue» oder «muddling through», zu Deutsch: durchwursteln. Im Schlusswort ist in einer anderen Metaphorik von einer seit einem Vierteljahrhundert betriebenen «Baustelle» die Rede.
Die Schrift gibt immerhin einen strukturierenden Überblick über die jeweils herrschende Unübersichtlichkeit. Verschiedene Hauptfragen klingen immer wieder an, werden aber nie wirklich thematisiert: In welchem Mass ist Migrationspolitik überhaupt steuerbar in einem Land, in dem stark divergierende Kräfte auf den so genannten «Entscheidungsprozess» stark einwirken können? Dann die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Bund und Kantonen und der auch hier zu beobachtende Umstand, dass die «cantons latins» eine markant liberalere Grundeinstellung haben.
Ein vom Neuenburger Geographen Etienne Piguet erarbeiteter Zwillingsband bietet eine quantitative Analyse der Migrationsströme der Jahre 1948–1998; leider ohne die Ergebnisse der Volkszählung von 2000 berücksichtigen zu können. Diesem alles in allem sehr informativen und mit zahlreichen anschaulichen Grafiken ausgestatteten Band kann man entnehmen, dass zwischen 1949 und 2001 insgesamt 3 454 034 Arbeiter in die Schweiz gekommen sind und einen Beitrag geleistet haben «à faire la Suisse d’aujourd’hui».
Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Hans Mahnig u.a.: Histoire de la politique de migration, d’asile et d’intégration en Suisse depuis 1948. Zürich, Seismo Verlag. 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 486-488.
Georg Kreis: Rezension zu: Etienne Piguet: L’immigration en Suisse depuis 1948. Une analyse des flux migratoires. Zürich, Seismo, 2005, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=17533. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 486-488.