S. Lechner: Die Eroberung der Fremdstämmigen

Cover
Titel
Die Eroberung der Fremdstämmigen. Provinzfaschismus in Südtirol 1921–1926


Autor(en)
Lechner, Stefan
Reihe
Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 20
Erschienen
Innsbruck 2005: Universitätsverlag Wagner
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Koller, Historisches Seminar Universität Zürich

Das anzuzeigende Buch, basierend auf einer Innsbrucker Dissertation von 2003, gibt erstmals einen detaillierten Überblick über die Südtiroler Geschichte vom Ende des Ersten Weltkrieges bis ins Jahr 1926, als der Faschismus seine Macht endgültig konsolidiert hatte und im Rahmen einer umfassenden Gebietsreform die Provinz Bozen geschaffen wurde. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse politischer Abläufe und Strukturen, der Autor lässt aber auch mentalitäts- und sozialgeschichtliche Aspekte einfliessen. Als hauptsächliche Quellenbasis dienen dem Autor staatliche und kommunale Archive sowie die einschlägige Presse.

Nach einleitenden Abschnitten über die Situation des Südtirols nach der Besetzung und schliesslichen Annexion durch Italien sowie den Anfängen des «Oberetscher» Grenzfaschismus – der erste «Fascio di combattimento» wurde im Februar 1921 in Bozen gegründet – untersucht der Autor im ersten Hauptteil die Zeit des Squadrismus und der faschistischen Machtergreifung. Im Unterschied zum Rest Italiens war der Hauptfeind der Faschisten im «Alto Adige» nicht die ohnehin schwache Arbeiterbewegung, sondern der Deutsche Verband, in dem sich die klerikale Tiroler Volkspartei und die Südtiroler Liberalen zusammengeschlossen hatten. Die Faschisten gerierten sich als Beschützer der eingewanderten italienischen Bevölkerung und als Speerspitze der Italianisierung. Ihre offene Gewaltbereitschaft war im Südtirol indessen bedeutend geringer als in der ebenfalls nach dem Ersten Weltkrieg annektierten, vom Autor immer wieder als Vergleichsgebiet herangezogenen Venezia Giulia, wo die Squadren mit gnadenloser Brutalität gegen Slowenen und Kroaten vorgingen. Der Autor sieht dafür verschiedene Gründe: Zum einen waren die Faschisten im Südtirol schwächer organisiert und weniger zahlreich als in den neuen nordöstlichen Provinzen, andererseits gab es gegenüber den slawischsprachigen Minderheiten, die zudem über eine starke Arbeiterbewegung verfügten, ein rassistisches UÅNberlegenheitsgefühl, das gegenüber den deutschsprachigen Südtirolern – die Ladiner wurden ohnehin als italienischsprachig betrachtet – nicht oder zumindest weniger ausgeprägt bestand. Zudem glaubte man im Falle des Südtirols auch stärker auf die internationale Öffentlichkeit Rücksicht nehmen zu müssen.

Nichtsdestotrotz gab es auch im Südtirol squadristische Gewalt. Am 24. April 1921 überfielen nach dem ersten Marsch auf Bozen 400 Faschisten einen Trachtenumzug und ermordeten dabei den Lehrer Franz Innerhofer. Der dadurch erwartete Mobilisierungsimpuls blieb indessen aus, da auch eine Mehrheit der italienischsprachigen Bevölkerung die Tat verurteilte. Im Sommer 1922 richteten die Faschisten dann an die Meraner Stadtbehörden einen Forderungskatalog, der die Beachtung italienischer Feiertage, Massnahmen zur sprachlichen Gleichstellung sowie Höchstpreise für Grundnahrungsmittel beinhaltete und vom Gemeinderat nach einem Ultimatum angenommen wurde. Im Oktober fand der zweite Marsch auf Bozen statt. Vorangegangen war ein Ultimatum, in dem die Faschisten unter anderem den Rücktritt des Bürgermeisters Perathoner sowie die Überlassung des neuen Schulhauses für die italienische Schule gefordert hatten. Die handstreichartige Einnahme des Schulgebäudes sowie weitere Aktionen in Salurn, Neumarkt und Tramin wertet der Autor als Abdankung des italienischen Staats im Südtirol und als faschistische Machtübernahme bereits einen Monat vor dem Marsch auf Rom, der im Südtirol relativ unspektakulär verlief.

Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit den ersten Jahren nach der faschistischen Machtergreifung. Trotz der forcierten Italianisierung hatten die Faschisten im Südtirol weiterhin einen schweren Stand. Durch interne Differenzen – namentlich zwischen Trient und Bozen – und personelle Querelen geschwächt, blieb die Zahl der Mitglieder bescheiden. Bei den Parlamentswahlen von 1924 feierte der Deutsche Verband im Südtirol einen überwältigenden Sieg und auch von der italienischsprachigen Bevölkerung in Bozen und Meran stimmte nur etwa die Hälfte dem faschistisch geführten «Listone», während der Rest mehrheitlich links wählte. Bis zur Ersetzung der gewählten Gemeindevertreter durch amtlich bestellte Podestà und der Auflösung des Deutschen Verbandes im Jahre 1926 waren die Faschisten in keinem einzigen Südtiroler Gemeinderat vertreten, vermochten allerdings durch Drohungen wie auch symbolische Aktionen einen gewissen Einfluss auf die Gemeindeverwaltungen auszuüben. Die Freizeitorganisation «Opera Nazionale Dopolavoro» erfreute sich zwar eines regen Zulaufs auch der deutschsprachigen Bevölkerung, was jedoch nach Meinung des Autors keine Rückschlüsse auf eine faschistische Gesinnung gestattet. Hingegen gelang es den Faschisten relativ rasch, öffentliche Feste und Feiern zu kontrollieren. Insgesamt blieb der Faschismus aber nach Meinung des Autors im Südtirol gleichwohl ein Oberflächenphänomen.

Auch die zahlreichen Formen von Resistenz belegen diese These. Dazu gehörten etwa der deutsche Geheimunterricht in der «Katakombenschule», die Weigerung, bei faschistischen Feiern den Hut zu ziehen, verschiedene symbolische Akte des deutschnationalen Klerus oder der Graffito «wer Muss, soll ini» auf dem Klo der Meranerbahn. Eigentlicher aktiver Widerstand war hingegen seltener und ging hauptsächlich von der politischen Linken aus. Mitte der 1920er Jahre formierte sich, vor allem in Jugendgruppen, auch ein deutschnationaler Widerstand, der sich allerdings nicht gegen den Faschismus an sich, sondern nur gegen seine Italianisierungspolitik richtete und auf Gewaltanwendung weitgehend verzichtete.

Insgesamt ist dem Autor eine profund recherchierte, detailreiche und abgewogene Darstellung gelungen. Besonders zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie die Südtiroler Sprachgruppen nicht als homogene Einheiten behandelt, sondern die auf beiden Seiten vorhandenen internen persönlichen und ideologischen Differenzen und Konflikte ebenso herausarbeitet wie Kooperationsangebote, ideologische Affinitäten und opportunistische Kollaboration über die Sprachgrenze hinweg. Auch lokale Unterschiede innerhalb des Südtirols fallen nicht unter den Tisch. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Bild, das sich in Abgrenzung zur traditionellen Landesgeschichte nicht mit einer blossen Viktimisierung der deutschsprachigen Südtiroler begnügt, sondern ihnen die Rolle politischer Akteure zugesteht undihren – wenngleich zunehmend eingeschränkten – politischen Handlungsspielraum auslotet.

Zitierweise:
Christian Koller: Rezension zu: Stefan Lechner: «Die Eroberung der Fremdstämmigen». Provinzfaschismus in Südtirol 1921–1926. Innsbruck, Universitätsverlag Wagner, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 3, 2006, S. 375-376.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 3, 2006, S. 375-376.

Weitere Informationen