P. Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919

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Titel
Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung


Autor(en)
Collmer, Peter
Reihe
Die Schweiz und der Osten Europas 10
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
650 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Koller, Historisches Seminar Universität Zürich

Der Autor des anzuzeigenden Buches, einer bei Carsten Goehrke und Madeleine Herren verteidigten Zürcher Dissertation, hat sich zum Ziel gesetzt, Diplomatiegeschichte als Kulturgeschichte zu schreiben. Er möchte dabei Institutionen, Personen und Ereignisse ebenso untersuchen wie die gegenseitige Wahrnehmung und das Selbstbild der beiden im Zentrum der Arbeit stehenden Staaten sowie die politische Kommunikation.

Die Arbeit ist in vier Hauptteile gegliedert. In einem ersten Abschnitt werden die beiden interagierenden Staaten im Hinblick auf ihre aussenpolitischen Orientierungen und Apparate getrennt betrachtet. Hier geht es nicht nur um die hohe Politik, sondern auch um die einzelnen Gesandtschaften und Konsulate, welche akribisch beschrieben werden. Sodann folgt ein Teil über die schweizerisch-russischen Beziehungen während des Umbruches in der Schweiz, den der Autor auf die Zeit vom Sonderbundskrieg bis zum Neuenburger Handel datiert. In dieser Periode suspendierte Russland seine Beziehungen zum neuen Bundesstaat, dessen politische Verfasstheit es vehement ablehnte, ohne den diplomatischen Kontakt aber offiziell abzubrechen. Das folgende, mit dem Titel «Zwischen den Revolutionen» überschriebene Kapitel untersucht im Längsschnitt die verschiedenen Dimensionen und Problembereiche der schweizerisch-russischen Beziehungen bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Ausführlich werden hier die Regelung des Personenverkehrs, die wirtschaftliche Kooperation, die Problematik direkter Postverbindungen, die Konflikte um die Asylpolitik und die Pressefreiheit sowie die Oberstenaffäre von 1915/16 und der Rücktritt von Bundesrat Arthur Hoffmann von 1917 geschildert.

Der letzte Hauptteil beschäftigt sich mit den schweizerisch-russischen Beziehungen und dem Ende derselben während der Zeit des Umbruches in Russland. Nach der bekannten Ausweisung der Berner Sowjetmission vom November 1918 verschlechterte sich das Klima immer mehr. Kurz darauf wurde das bei der norwegischen Botschaft in Petrograd hinterlegte Wertsachendepot der schweizerischen Gesandtschaft, in dem sich Vermögenswerte zahlreicher Russlandschweizer befanden, von Bewaffneten ausgeraubt. Einen Monat später kam es sogar zu wechselseitigen Geiselnahmen von Botschaftspersonal beziehungsweise dessen Angehörigen. Im März 1919 verliess die schweizerische Gesandtschaft das revolutionäre Russland.

In einer Bilanz streicht der Autor als strukturelle Kontinuitäten seines Untersuchungszeitraums die Asymmetrie der beiden Staaten sowohl bezüglich ihrer geographischen Grösse und militärischen Macht als auch hinsichtlich ihrer politischen Systeme und Kulturen hervor, im weiteren die Einbettung der bilateralen Beziehungen in übergeordnete gesamteuropäische Prozesse und Konstellationen, ein dosiertes wechselseitiges Wohlwollen sowie eine – freilich nicht ungetrübte – Komplementarität der Interessen bei gleichzeitigen gewaltigen Differenzen in der politischen Kultur. Daraus ergab sich, dass die politischen Diskurse unvereinbar waren und man sich gegenseitig als andersartig wahrnahm, dass man aber einen bilateralen Pragmatismus übte, der das standardisierte Protokoll der traditionellen Diplomatie als politische Lingua franca benutzte.

Insgesamt hat der Autor ein umfassendes, von souveräner Quellenkenntnis und Liebe zum scheinbar nebensächlichen Detail zeugendes und gut abgerundetes Opus vorgelegt, das seinen eigenen Ansprüchen vollumfänglich gerecht wird und die politkulturelle Dimension der schweizerisch-russischen Bilateralität herausarbeitet, ohne die eher traditionell diplomatiegeschichtlichen Aspekte zu vernachlässigen. Wenn auch an einigen Stellen das Urteil etwas apodiktisch erscheint etwa, wenn die Revolutionärin Angelika Balabanova ohne weitere Erläuterungen als «berüchtigt» qualifiziert wird (S. 357) –, so sind doch die Hauptthesen einsichtig und empirisch solide fundiert. Darüber hinaus ist das Buch flüssig geschrieben und damit trotz seines voluminösen Umfanges gut lesbar.

Zitierweise:
Christian Koller: Rezension zu: Peter Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung. Zürich, Chronos Verlag, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 331-332.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 331-332.

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