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Titel
Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter


Autor(en)
Groebner, Valentin
Erschienen
München 2003: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michael Jucker, Universität Luzern

Die kontroverse Debatte um dumpfe mittelalterliche und saubere heutige Gewalt und deren mediale Darstellungen wurde durch die Propaganda von Gewalt und Kreuzzugsmetaphern während des letzten Irakkriegs wieder einmal mehr als deutlich. Doch war das Mittelalter tatsächlich düsterer und voller Gewalt? Waren die Menschen damals abgestumpfter gegenüber medial vermittelter oder realer Gewalt als wir, wie so oft behauptet wird? Oder sind wir in der Bilderflut der visuellen Medien selbst nur noch ängstliche und gleichzeitig faszinierte Konsumenten dieser gewalt(tät)igen Bilder, die uns täglich benebeln? Während einerseits die Gewaltforschung zeitgenössische Fragen soziologisch und medientheoretisch zu beantworten sucht, analysiert die Geschichtswissenschaft andererseits historisch gelagerte Phänomene mentalitäts- und militärgeschichtlich, oder sie arbeitet sich am Gewaltbegriff Galtungs ab. Dabei werden die mittelalterlichen Gewaltformen oft als eigenartig, exotisch oder gar als unerklärlich fremd verortet. Valentin Groebner hingegen bietet in seinem neuesten Buch einen doppelten (vergleichenden) kulturwissenschaftlichen Blick auf vergangene und gegenwärtige Bilder der Gewalt. In einer etwas kurzen, aber faszinierenden Reise führt er den Leser zu den spätmittelalterlichen Darstellungsformen der Gewalt: zu den Ungestalten, zum Entstellten, zum Unbeschreibbaren, zu den geheimen Zeichen von Verschwörern, die auf abwesendes Bedrohliches verwiesen, zu abgeschnittenen Nasen, welche Gesichter verunstalteten, zum gestreckten und gemarterten Leib Christi am Kreuz, dann zu den zerstückelten Leibern der Söldner auf den norditalienischen Schlachtfeldern, denen das Bauchfett herausgeschnitten und an Apotheken verkauft wurde, und immer wieder und ganz deutlich am Schluss zu den Gewaltbildern unserer Zeit. In einem theoretischen Vorspann begründet Groebner sein doppeltes Vorgehen: nämlich im Verlauf des Buches auf moderne Bilder der Gewalt zurückzugreifen und dauernd Quervergleiche anzustellen Dabei gehe es ihm nicht um das Aufdecken von längst Vorhandenem oder irgendwelchen Ursprüngen im Mittelalter. Vielmehr will Groebner zeigen, dass die Zeichen und Bilder der Gewalt im Spätmittelalter stets ausgehandelt und immer wieder neu definiert wurden, dass dargestellte Gewalt wie heute täuschen oder täuschend eingesetzt werden konnte. Die Bilder und Zeichen verweisen beharrlich auf das Unbeschreibbare, auf den kulturell geprägten Horror. Gewalt in Bildern ist anonym und erschreckend zugleich. Darstellungen der Gewalt wurden gefertigt, um Publikumswirkung zu erzielen. Gewalt wirkt in inszenierten makaberen Bildern, die ihre Vorgeschichten haben. Wir verstehen sie nur über ihren Bedeutungsüberschuss. Abgeschnittene Nasen verunstalteten nicht nur das Gesicht, sondern entehrten die Person als menschliches Wesen. Erst durch historische Kontextualisierung wird klar, dass die blutende Nase auf etwas Abwesendes wie die Ehre verweist. Ehrverlust und Gewalt waren aber auch eine Frage der kulturellen Zeichendeutung. Besonders deutlich macht Groebner dieses kulturelle Zeichenlesen – und auch die Wirkungen auf unser Empfinden – im Kapitel über den gekreuzigten Leib Christi. So zeigt er, dass der gemarterte Christus im Spätmittelalter zwar zur frommen Kontemplation der Passion anleiten sollte. Aber auch durch die Vervielfältigung der Kruzifixe und Bilder ein oft ins Humoristische oder Bösartige gedrehtes Eigenleben entwickelte. Auch die Passionsspiele verloren bisweilen ihre Ursprungsbotschaft. Gewalt am Körper Christi wurde einerseits sinnbildlich als Gewaltfähigkeit der Obrigkeiten inszeniert und hatte deshalb propagandistische Breitenwirkung. Die öffentlichen Exekutionen von Straftätern andererseits waren ebenfalls inszenierte und mit biblischen Elementen vermengte Strafrituale. Groebner spinnt den Faden zu Ende und bemerkt, dass auch heute noch in Filmen und auf Photographien der nackte, blutig geschundene, männliche Oberkörper als Visualisierung von Gewalt medienwirksamer inszenierbar ist, als Bilder von durch Gewalt entstellte Frauen, «in den Bildern des Grauens herrscht strikte Geschlechterordnung». Bilder, so Groebner, verweisen immer auf andere, immaterielle Vorstellungen, welche die Betrachter von anderswo her kennen, bzw. kannten. So deutet die Studie auf kulturelle Substrate und Bilderarsenale hin, auf die bereits im Spätmittelalter zurückgegriffen wurde, die aber auch heute verändert nachwirken. Zwar entspricht Stephen Greenblatts Beschreibung auf dem Umschlag des vorliegenden Buches nicht dem Inhalt dieser kleinen Studie. Weder erzählt Groebner von Türkennasen noch Tartarenlippen, geschweige denn von der Renaissance Shakespeares. Doch die teils etwas hastig erscheinende, mäandrierende, aber immer spannende und virtuos beschriebene Reise zu den vergangenen und gegenwärtigen Gewaltbildern und Ungestalten lohnt sich allemal. Sie lohnt sich insbesondere dort, wo das Buch zur Reflexion anregt, dort wo Groebner alte Denkmuster hinterfragt und mit offenen Fragen zu eigener Recherche animiert.

Zitierweise:
Michael Jucker: Rezension zu: Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter. München/Wien, Hanser, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 105-107.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 105-107.

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