B. Meier: "Gott regier mein Leben"

: "Gott regier mein Leben". Die Effinger von Wildegg, Landadel und ländliche Gesellschaft zwischen Spätmittelalter und Aufklärung. Baden 2000 : hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, ISBN 978-3906419152 333 S. € 39,80

: Aussterben oder verarmen?. Die Effinger von Wildegg, eine Berner Patrizierfamilie während Aufklärung und Revolution. Baden 2000 : hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, ISBN 978-3906419169 424 S. € 39,80

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Familiengeschichten zur patrizischen Führungsschicht der Schweiz und namentlich Berns im Zeitraum der frühen Neuzeit gibt es wenige. Zudem sind sie meist von genealogisch-chronikalisch interessierten Laien ad majorem gloriam familiae verfasst. Ulrich Im Hof stellte 1982 in der schweizerischen Geschichtsschreibung eine Forschungslücke zwischen dem späten 16. und dem frühen 18. Jahrhundert fest.

Die beiden Aargauer Historiker Bruno Meier und Felix Müller (beide mit Jahrgang 1962) leisten mit ihrer letztes Jahr erschienenen, beeindruckenden Doppelmonografie über die Effinger von Wildegg einen Beitrag zur Schliessung dieser Lücke. Dies im Sinne der von Otto Brunner initiierten Erforschung der Adelswelt der frühen Neuzeit (Stichwort: das Ganze Haus). Das Verständnis von Gesellschaft als ganzheitliches System, in welchem die historische Entwicklung aufgrund von Basisprozessen bestimmt wird, steht denn auch dem Unternehmen Pate.

Die Familie Effinger eignet sich als Forschungsgegenstand im Gebiet der Geschlechterforschung besonders gut. Bern verkaufte 1484 die eroberte habsburgische Herrschaft Wildegg an Kaspar von Effingen mit der Auflage an den Käufer, Bernburger zu werden – offensichtlich, um die Herrschaft der Stadt im Aargau zu sichern. Wildegg mit den beiden Herrschaftsdörfern Möriken und Holderbank blieb im Wesentlichen ungeteilt im Familienbesitz, bis die Herrschaftsrechte im Gefolge der Revolution von 1798 an den Staat fielen. Julie von Effinger (1837–1912) vermachte als Letzte des Geschlechts den Besitz Wildegg samt Familienbibliothek und Familienarchiv (das wegen der Kontinuität der Besitzverhältnisse relativ vollständig ist) der Eidgenossenschaft. Zusammen mit Quellenbeständen der Staatsarchive des Aargaus, Berns und der Waadt, der Burgerbibliothek Bern sowie der Gemeindearchive der Herrschaftsdörfer ergibt dies eine beeindruckende Quellendichte und damit eine hervorragende Ausgangslage für das Forschungsvorhaben. Die beiden Autoren haben die Chance gepackt. Die Qualität des Archivbestandes (eingeschlossen die Bibliothek und der über Jahrhunderte zusammengekommene Sachgüterbestand) kann für den Bereich des bernischen Aargaus nur mit dem zeitlich wie inhaltlich noch umfassenderen Hallwyl-Archiv verglichen werden oder mit dem bis heute nicht aufgearbeiteten Nachlass der bernburgerlichen Familie May von Rued und Schöftland.

Seit 1912 betreut das Schweizerische Landesmuseum das Effingererbe. Der damalige Direktor Hans Lehmann bearbeitete die Geschichte der Burg Wildegg und ihrer Bewohner ein erstes Mal und publizierte sie zwischen 1918 und 1922. Die Direktion des Landesmuseums gab um 1990 den Auftrag zur wissenschaftlichen Neubearbeitung der Effinger-Geschichte unter modernen Fragestellungen. Das anspruchsvolle Vorhaben wurde durch Beiträge des aargauischen Regierungsrats, der Burgergemeinde Bern, der Gemeinde Möriken-Wildegg und des Schweizerischen Landesmuseums ermöglicht. Das Resultat verdient vorbehaltlose Anerkennung.

Bruno Meier befasst sich mit der Zeit von 1500 bis rund 1700, mit Schwerpunkt – entsprechend der Quellenlage – im 17. Jahrhundert. Seine Kollektivbiografie der Effinger, die gleichzeitig Gesellschaftsgeschichte ist, bezogen auf den Mikro- kosmos der Wildegg und ihrer zugehörigen Dörfer, zeichnet ein faszinierendes Bild der Lebensführung der Effinger, ihrer Wertvorstellungen und ihres Rollenverständnisses zwischen Landleben und politischer Betätigung als Teil der bernischen Machtelite. Den wirtschaftlichen Voraussetzungen dieser Lebensführung widmet Meier ein zentrales Kapitel, das präzis über Umfang und Struktur des Herrschaftsbesitzes, die Verwaltung der Güter, die Zusammensetzung des Familieneinkommens und die Grösse sowie die Organisation des Haushaltes berichtet. In zwei weiteren Kapiteln werden Organisation, rechtliche Strukturen und Wirtschaft des Herrschaftsgebietes sowie die ländliche Sozialordung und Lebensformen thematisiert.

Am Anfang steht – und damit wird der Einzelfall Wildegg in den grösseren geschichtlichen Zusammenhang eingebettet – eine ebenso kurze wie präzise Darstellung der Herrschaftsstrukturen des bernischen Staates in der frühen Neuzeit. So wie der bernische Staat sich vom Gliederstaat mit regionalen und familienherrschaftlichen Sonderrechten zum territorialen Flächenstaat entwickelte, so standen die Effinger im Spannungsfeld zwischen herrschaftlicher Selbstbehauptung und Integration in die bernische Herrschaftselite.

Felix Müllers Arbeit zur späteren Epoche der Effinger-Geschichte entstand als Dissertation bei Professor Martin Körner in Bern. Er geht dabei von einer zentralen Fragestellung aus, die in der Begründung enthalten ist, warum die Familie 1812 eine Familienstiftung einrichtete, nämlich «um die Fortdauer und ehrenhafte Existenz» des Geschlechts zu sichern. Das war die Problematik, mit welcher der ganze europäische Adel seit Beginn der grossen Transformation konfrontiert war. Es galt einerseits, der Familie die wirtschaftlichen Ressourcen zu erhalten oder sie gar zu mehren, die allein ein standesgemässes Leben (ehrenhafte Existenz) erlaubten, andererseits musste das Geschlecht vor dem Aussterben bewahrt werden. Hier zeigte sich ein fast unlösbarer Zielkonflikt. Die Gefahr des Aussterbens – verschärft durch hohe Kindersterblichkeit – liess sich mit vielen Kindern reduzieren. Viele Kinder bedeuteten aber auch viele Erben, Besitzzersplitterung und schliesslich Verarmung. Die Handlungsstrategien waren also «Aussterben oder verarmen», wie es Müller im Untertitel des Werks trefflich formuliert.

Die Arbeit Müllers beleuchtet zwei verschiedene Zeiträume. Für das generative Verhalten untersucht er den gesamten Zeitraum von 1600 bis zum Aussterben. Dabei bestätigt sich die Arbeitshypothese, wonach in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität die Familie mehr Mitglieder zählte. Es gab weniger Ledige und es wurde früher geheiratet als bei angespannter Wirtschaftslage. Es lässt sich auch zeigen, dass sich die Partnerwahl meist den wirtschaftlichen Familieninteressen unterzuordnen hatte. Für die Frage der Standeswahrung und die wirtschaftlichen Grundlagen beschränkt sich Müller auf die Zeit zwischen 1725 und 1815 (zwei Zeitpunkte von Besitzeswechseln in Wildegg) und deutet die hervorragend dokumentierte Wirtschaft dreier Schlossherren. Die Effinger waren eine «Aufsteigerfamilie», welcher der Eintritt in den Kreis der bernischen Machtelite relativ spät gelang. Das wichtigste Merkmal und die Voraussetzung, um am «Unternehmen Staat» aktiv beteiligt zu sein, war der Zugang zum Rat der Zweihundert. 1680 trat der erste Effinger in den Grossen Rat ein und 1786 in den Kleinen Rat. Dieser Sprung in den Kreis der regierenden Familien war das Resultat einer kontinuierlichen und systematischen Familienpolitik, welche die Effinger in Beziehung zu führenden Familien Berns, etwa den Erlach, Bonstetten, Dachselhofer, Morlot, Diesbach und anderen gebracht hatte.

Der «Standeswahrung» galt also eine Hauptsorge der Familie. Müller legt sehr anschaulich dar, was unter «standesgemässem Verhalten» zu verstehen war. Er unter- sucht die Betätigungen, aber auch die Erziehung und Sozialisation der Familienmitglieder, etwa die Stationen der Erziehung, auswärtigen Unterricht, Sprachaufenthalte, Kavalierstour und Universitätsbesuch, Ziele der Ausbildung. Sehr interessant ist auch das Kapitel über den Umgang mit gesellschaftlichem Wandel, das über Familienstrukturen und Wege der Information Auskunft gibt. Die Effinger waren eine Familie mit stark konservativer Grundhaltung. Staatsdienst und landwirtschaftliche Betätigung, in manchen Fällen auch Solddienst galten als standesgemäss, ein Engagement in Handel und Gewerbe jedoch nicht. So stellt sich am Schluss die Frage, ob ein anderer Umgang mit den Neuerungen der Aufklärung und der revolutionären Transformation ein Aussterben der Familie verhindert hätte.

Zusammenfassend kann man die beiden Arbeiten von Bruno Meier und Felix Müller als wegweisend für zukünftig zu schreibende Familiengeschichten aus dem Bereich des 16. bis 19. Jahrhunderts bezeichnen. Dafür sprechen auch die beeindruckenden Literaturverzeichnisse.

Der Verlag hat die beiden Bände sehr gediegen ausgestattet: von den einladenden Umschlagsillustrationen über den schönen Einband bis zum angenehm zu lesenden Satzspiegel und einer Fülle sorgfältig ausgewählter und aussagekräftiger Illustrationen. Einzig die Grafiken wünscht man sich zuweilen etwas klarer, vor allem dort, wo mit verschiedenen Graustufen gearbeitet wird.

Zitierweise:
- Christoph Zürcher: Rezension zu: «Gott regier mein Leben». Die Effinger von Wildegg, Landadel und ländliche Gesellschaft zwischen Spätmittelalter und Aufklärung, Baden, hier+jetzt, 2000, 333 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 63, Nr. 4, Bern 2001, S.69ff. - Christoph Zürcher: Rezension zu: Müller, Felix: Aussterben oder verarmen? Die Effinger von Wildegg, eine Berner Patrizierfamilie während Aufklärung und Revolution, Baden, hier+jetzt, 2000, 424 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 63, Nr. 4, Bern 2001, S. 69ff.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 63, Nr. 4, Bern 2001, S.69ff. - Christoph Zürcher: Rezension zu: Müller, Felix: Aussterben oder verarmen? Die Effinger von Wildegg, eine Berner Patrizierfamilie während Aufklärung und Revolution, Baden, hier+jetzt, 2000, 424 S., ill.

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