Völkischer Nationalismus, gewaltsame Annexion und Umsiedlung: Aktuell sind die Themen, die Alexa Stiller im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs ebenso umfassend wie systematisch studiert. Wenngleich sie auch als historische Orientierungshilfe gelesen werden kann, leistet ihre Arbeit in erster Linie einen Beitrag zur Erforschung des Nationalsozialismus in Kriegszeiten, als das Regime weite Teile Europas unterjochte und die Bevölkerungsstruktur in den von Deutschland annektierten Staaten mit aller Gewalt veränderte. Die Vertreibung und Vernichtung der eingesessenen Juden, Slawen und anderen stigmatisierten Menschen sollte Platz schaffen für «Volksdeutsche». Die dahinter stehende ordnungspolitische Utopie war der ethnisch homogene Staat. Das Thema dieser 2015 an der Universität Bern abgeschlossenen Dissertation liegt daher an der spannenden Schnittstelle von Siedlungspolitik und Massenmord.
Der Charakter einer akademischen Qualifikationsschrift schlägt sich in einer tiefgreifenden Bestandsaufnahme der Forschungsliteratur, einem extensiven Anmerkungsapparat und dem Bemühen um klare Begrifflichkeit und Methode nieder. Zwischenergebnisse erleichtern die Orientierung und bilden ein Argumentationsgerüst, das schliesslich nach 1300 Seiten in einer Zusammenfassung der Ergebnisse mündet. Stiller setzt in ihrer ebenso ambitionierten wie voluminösen Arbeit einen deutlichen Schwerpunkt: die Analyse jener Sonderbehörde, die Heinrich Himmler in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) ab 1939 zur Umsetzung der «Germanisierung» diente.
Nach der Erläuterung ihrer Genese, nicht zuletzt ihrer ideologischen Wurzeln steht die (titelgebende) «völkische Politik» des NS-Regimes als Legitimation und Zweckbestimmung des RKF-Apparates im Mittelpunkt. Ist dieser Kontext nicht unbekannt, zeichnet Stiller dann ein informatives Bild des komplexen Apparats selbst: seiner europaweiten Ausdehnung, seiner Verwaltungsstruktur und nicht zuletzt seiner zu Spitzenzeiten 1941/ 1942 über 20 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Der Grossteil arbeitete im Umsiedlungsamt der Volksdeutschen Mittelstelle und rekrutierte sich aus dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland. Das zumeist bürgerliche, juristisch ausgebildete Personal eignete sich bestens, wie Stiller zeigt, für das hoch effiziente Prinzip der Verwaltung durch Delegation. Während das jeweilige Ziel von oben vorgegeben wurde, blieb es den unteren Ebenen überlassen, mit welchen Mitteln sie dieses Ziel im konkreten Fall erreichten. Effizient war dieser Führungsstil, weil so die Praxis der völkischen Politik auf die jeweiligen, ganz unterschiedlichen Umstände ohne grössere Reibungsverluste abgestimmt werden konnte.
Indem Stiller den unterschiedlichen Formen des Zusammen- und Mitwirkens nachgeht, gelingt ihr der Nachweis, dass Himmlers Apparat tiefer in der deutsch-österreichischen Gesellschaft verankert war als bislang gedacht. Völkische Politik lässt sich demnach als ein Projekt der «Volksgemeinschaft» verstehen. Banken und Universitäten etwa waren ebenso dabei wie die Deutsche Frauenschaft, der Reichsarbeitsdienst und staatliche Jugendorganisationen, wenn es darum ging, die «volksdeutschen» Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen.
Eine Stärke der Arbeit liegt in ihrem komparatistischen Zuschnitt und dem hohen Anspruch, sämtliche annektierten Regionen in den Blick zu nehmen, die ein Opfer völkischer Politik wurden. Anhand des binären Musters von Inklusion und Exklusion, das die NS-Forschung mit dem Konzept der «Volksgemeinschaft» fruchtbar gemacht hat, zeichnet sie im zweiten Band zum einen minutiös die Praktiken nach, mit denen die einheimische Bevölkerung ausgegrenzt und vertrieben wurde. Zum anderen untersucht sie den vielschichtigen juristischen und wirtschaftlichen Prozess, in dem die neu Angesiedelten durch Einbürgerung und «Eindeutschung» zu Staatsbürgern des Dritten Reiches gemacht wurden. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr das Regime darauf setzte, den «Volksdeutschen» eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Position zu sichern, die ihrem Status im Herkunftsland entsprach. Die (kapitalistischen) Lebensverhältnisse sollten schon aus Gründen der Produktivität möglichst 1:1 übertragen werden. «Leistung» war ein Schlüsselbegriff der nationalsozialistischen «Volksgemeinschaft», wie die NS-Forschung gezeigt hat. Dass dieser Befund auch für den Bereich der völkischen Politik galt, weist Stiller überzeugend nach. Weniger berücksichtigt werden dadurch indes Gruppen alter Menschen wie jene Deutschbalten, die in Schwetz – einem der am stärksten betroffenen Kreise in Danzig-Westpreussen – in der einstigen Psychiatrischen Anstalt einquartiert wurden, deren Patienten zuvor mehrheitlich erschossen worden waren.
Auf breiter Quellenbasis kann die Autorin herausarbeiten, dass die massgeblich vom RKF getragene Germanisierungspolitik zu Kriegszeiten «das wichtigste nicht-militärische Vorhaben des NS-Regimes» (S. 1301) war. Ausschlaggebend für diesen enormen Einsatz von Ressourcen war indes nicht die nationalsozialistische Ideologie im engeren Sinn, sondern, so lautet die These, ein älteres diskursives Muster, das um die Schlüsselbegriffe «Volk», «Raum» und «Rasse» kreiste. Es gehörte nicht nur zum Konsens der NSDAP und der SS, sondern auch der Wehrmacht, der Wirtschaft und der Wissenschaft sowie der Ministerialbürokratie, deren Mitarbeiter hochmotiviert waren und dank des Delegationsprinzips in der Siedlungsplanung und -praxis kooperierten, statt zu konkurrieren. Dieses Ergebnis lässt die Sonderbehörde RKF in einem neuen Licht erscheinen und unterstreicht den Faktor der Selbstmobilisierung in der NS-Forschung. Man mag die vorsorgliche Versicherung der Autorin, dass die geschlechtersensible Schreibweise «Nationalsozialist*innen» et cetera politisch wie ästhetisch geboten sei (S. 51), angesichts der historiographischen Folgeprobleme nicht teilen. Wer sich jedoch mit der europaweiten Herrschaft des NS-Regimes befasst, kommt an dieser wichtigen Arbeit nicht vorbei.
Zitierweise:
Echternkamp, Jörg: Rezension zu: Stiller, Alexa: Völkische Politik. Praktiken der Exklusion und Inklusion in polnischen, französischen und slowenischen Annexionsgebieten 1939–1945, Göttingen 2022, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=145635. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 153-155 Online: <https://doi.org/10.24894/2296–6013.00142>.