A. Schmidlin u.a.: Versorgt, ausgewiesen, in den Tod geschickt

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Titel
Versorgt, ausgewiesen, in den Tod geschickt. Das Leben des jüdischen Elsässers Gaston Dreher (1907–1944)


Autor(en)
Schmidlin, Antonia; Wichers, Hermann
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
217 S.
Rezensiert von
Barbara Häne, Jüdisches Museum der Schweiz

Antonia Schmidlin und Hermann Wichers untersuchen Gaston Drehers komplexe Lebensgeschichte, die mit der Ausweisung aus der Schweiz 1943 und seiner Ermordung in Auschwitz endet. Die vorhandenen Quellen, denen Schmidlin und Wichers akribisch folgen, legen vor allem Zeugnis über die Jahre 1922 bis 1934 ab. In diesen Jahren wurde Gaston Dreher wiederholt straffällig oder aufgrund seines auffälligen Benehmens in psychiatrische Kliniken eingewiesen – was über sein Leben heute noch bekannt ist, basiert also mehrheitlich auf Berichten über sein sozial inkompatibles Verhalten. Die meisten Quellen stammen aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt, ergänzt durch Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, französischen und deutschen Archiven.

Das Buch setzt mit der Beschreibung von Gaston Drehers Jugend ein; mit 15 Jahren stahl er seinen Nachbarn und seinem Vater Elie Dreher, der zu diesem Zeitpunkt in der Psychiatrie untergebracht war, verschiedene Wertgegenstände und verkaufte sie einem jüdischen Händler osteuropäischer Herkunft namens Itzik Feldmann. Dafür wurde aber nicht Dreher, sondern Feldmann verurteilt. Anhand des Prozesses zeigt die Autorenschaft, dass die Krankheit von Elie Dreher, der 1923 starb, das Familienleben destabilisiert hatte. Die Umstände, unter denen Dreher das erste Mal delinquent wurde, anerkannten die Behörden, indem er nicht verurteilt wurde, sondern durch «‹Erziehungs- und Besserungsmassnahmen› auf den rechten Weg gebracht werden» (S. 12) sollte. Die Verurteilung von Feldmann zeugt hingegen von einer antisemitischen Grundhaltung der Behörden, die sich vor allem gegen Jüdinnen und Juden osteuropäischer Herkunft richtete.

Feldmann wurde angelastet, dass er einen hohen Gewinn aus dem Weiterverkauf erzielt hatte. Wie die Untersuchungen von Aaron Kamis-Müller1 und Andreas Gehringer2 belegen, wurden in Basel jüdische Händler während des Ersten Weltkriegs überproportional häufig in sogenannten «Wucherprozessen» verurteilt. Die Beurteilung, ob aus einem Geschäft ein übermässig hoher Gewinn resultierte, war eine Frage der Auslegung – jüdischen Händlern osteuropäischer Herkunft wurde der Vorwurf der unlauteren Geschäftspraxis besonders häufig gemacht.

Das zweite Kapitel geht der Vorgeschichte der Familie Dreher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Tod des Vaters nach. Aufgrund eines 1918 eröffneten Prozesses wegen Nahrungsmittelwuchers gegen Elie Dreher wurde der Familie Dreher später die Einbürgerung in der Schweiz verweigert. Gaston Dreher erlebte während des Ersten Weltkriegs eine schwierige, unruhige Primarschulzeit. Es wird festgehalten, dass Gaston Dreher stotterte. Dreher selbst hatte später den Eindruck, dass er dadurch «als ein Sonderling » (S. 49) galt, wie er in seinem Lebenslauf in der Klinik Rouffach 1928 festhält.

1922 trat Gaston Dreher freiwillig in die Erziehungsanstalt Klosterfiechten ein. Es ist der Beginn einer langen Reihe von Aufenthalten in Jugendheimen, psychiatrischen Anstalten und im Gefängnis. Konflikte mit seiner Mutter begleiteten seine Jugend. Nachdem Gaston Dreher 1926 eine Schneiderlehre abgeschlossen hatte, lebte er zeitweise wieder bei ihr an der Mostackerstrasse in Basel. Er beging erneut einige Diebstähle und infolgedessen wurde seine Ausweisung nach Frankreich in Betracht gezogen, insbesondere, weil die Israelitische Armenpflege in Basel signalisierte, dass die finanzielle Unterstützung Drehers für einen weiteren Aufenthalt in einer Anstalt nicht gesichert war. Dreher meldete sich nach Frankreich ab, eine angestrebte Militärkarriere in der französischen Armee wurde ihm jedoch verwehrt. Nach seiner Rückkehr nach Basel im darauffolgenden Jahr stahl er erneut Geld – nun wurde das erste Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Im Gerichtsverfahren «fällt der starke Einbezug der Psychiatrie auf» (S. 92). Zwei alte psychiatrische Gutachten, die aus den Jugendjahren von Dreher stammten, wurden beigezogen und eine neue psychiatrische Untersuchung vorgenommen, die zum Schluss kam, dass Dreher nicht geisteskrank war. Dennoch wurde er ab Januar 1928 in der Heil- und Pflegeanstalt Rouffach untergebracht. Aus diesem Aufenthalt stammt der erste Lebenslauf aus der Feder Drehers.

Gerne hätte man an dieser Stelle mehr aus dem Selbstzeugnis direkt gelesen, bietet doch der kurze Ausschnitt aus dem Patientendossier einen seltenen Einblick in Drehers Selbstbild – im Gegensatz zu den zahlreichen, zum Teil pejorativen Fremdzuschreibungen aus den Akten der Behörden.

Auf den ersten Psychiatrieaufenthalt in Rouffach folgten zwischen Ende 1928 und 1931 zwei weitere. Dazwischen hielt sich Dreher in Basel auf, wo er aber als unerwünscht galt. Im Oktober 1931 wurde ein zehnjähriger Landesverweis gegen ihn ausgesprochen und er lebte ab diesem Zeitpunkt in Frankreich. Es folgten mehrere illegale Aufenthalte in der Schweiz, bei denen Dreher erneut delinquent wurde. Obwohl bei ihm keine Geisteskrankheit festgestellt werden konnte, «irritierte» sein Verhalten die an seinen Gerichtsverfahren anwesenden Journalisten und Anwälte (S. 131). Aus Drehers Verteidigungsschrift der 1934 stattgefundenen Gerichtsverhandlung gegen ihn geht hervor, dass er sich als «Opfer widriger Lebensumstände» (S. 147) verstand und den Landesverweis als grosses Unrecht empfand.

Nach 1934 nehmen die verfügbaren Aktenbestände zu Gaston Dreher ab, jedoch wurde er weiterhin wegen kleinen Diebstählen registriert und hatte zeitweise keinen festen Wohnsitz. Im Januar 1939 ersuchte Gaston Dreher bei der Eidgenössischen Fremdenpolizei erfolglos um eine vorzeitige Aufhebung des zehnjährigen Landesverweises.

Das letzte Kapitel beschreibt Gaston Drehers Flucht in die Schweiz, seine Ausweisung nach Frankreich und die Deportation nach Auschwitz. Nachdem die Schweizer Behörden nach seiner illegalen Einreise in der Schweiz 1943 festgestellt hatten, dass Dreher in seiner Vergangenheit wiederholt straffällig geworden war, hielt ein Beamter des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements fest, «dass Dreher als Jude sicher gefährdet, aber andererseits ein ausgesprochen kriminelles Element [ist], das das Asyl nicht verdient.» (S. 171). Oscar Schürch, Rechtsberater der Eidgenössischen Fremdenpolizei, beantragte ebenfalls die Ausschaffung, Robert Jezler und Heinrich Rothmund stimmten der Abschiebung zu. All dies, obwohl 1943 den Beamten hinlänglich bekannt war, dass Jüdinnen und Juden in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten der Tod drohte. Die Beamten der Fremdenpolizei nahmen damit Gaston Drehers Ermordung wissentlich in Kauf, indem sie entschieden, dass ein kleinkrimineller Jude des Asyls nicht würdig sei.

Am 2. Dezember 1943 wurde Gaston Dreher nach Frankreich ausgeschafft. Umgehend wurde er von der deutschen Besatzungsmacht ergriffen und in das Sammellager Drancy überführt. Am 20. Dezember 1943 traf er in Auschwitz ein. Da er als arbeitsfähig eingestuft wurde, überlebte er noch einige Monate. Im April 1944 wurde er in der Gaskammer ermordet.

Antonia Schmidlin und Hermann Wichers ist es mit diesem Buch gelungen, Gaston Drehers schwierige Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Im 20. Jahrhundert wurde zunehmend versucht, Jugendliche durch fürsorgerische Massnahmen «nachzuerziehen» und in die Gesellschaft einzugliedern. Nachdem Gaston Dreher jedoch erneut straffällig wurde, verschärften sich die behördlichen Massnahmen gegen ihn stetig und mündeten im Landesverweis. Die Deutlichkeit, mit der die Behörden nach Drehers Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die Schweiz entschieden, dass nur angepasste jüdische Personen das Leben verdienten, zeigt, wie die Eidgenössische Fremdenpolizei jüdische Menschen aufgrund von moralischen Urteilen willkürlich in den Tod schickte.

Anmerkung:
1 Aaron Kamis-Müller, Antisemitismus in der Schweiz, 1900–1930, Zürich 2000.
2 Andreas Gehringer, «Der Teufel sei ein Jude, sonst hätte er sie geholt», Basler Wucherprozesse im Ersten Weltkrieg, in: Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Judaistische Forschung 24 (2015), S. 5–22.

Zitierweise:
Häne, Barbara: Rezension zu: Schmidlin, Antonia; Wichers, Hermann: Versorgt, ausgewiesen, in den Tod geschickt. Das Leben des jüdischen Elsässers Gaston Dreher (1907–1944), Zürich 2022, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=145634. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 151-153 Online: <https://doi.org/10.24894/2296–6013.00142>.