Hinter dem Titel «Halbamtliche Wissenschaft» von Jan-Philipp Horstmann verbirgt sich eine Untersuchung zur zentralen Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Am Beispiel des Internationalen Statistischen Kongress (ISK) und seiner Nachfolgeorganisation, dem Internationalen Statistischen Institut (ISI) untersucht Jan-Philipp Horstmann, wie internationale Diskurse der Statistik Eingang in die nationale staatliche Verwaltungsstruktur gefunden haben. In dem er einen wissenschafts- und institutionsgeschichtlichen Zugang verbindet, untersucht Horstmann die historischen Bedingungen, die für die Institutionalisierung der Statistik von Bedeutung waren. Der Autor hinterfragt die Strukturen und Rahmenbedingungen statistischer Konstruktion einer stark national geprägten Wissenschaft, die ihre Datengrundlage in erste Linie aus national geprägten Kontexten zieht, gleichzeitig aber der zunehmenden Internationalisierung und Standardisierung unterworden ist.
Mit seinem auf seiner St. Galler Dissertation beruhenden Buch will Horstmann einen Beitrag leisten, die Geschichte der internationalen Statistik von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg aufzuarbeiten. Die Untersuchung ist ein wichtiger Baustein, die Rolle der Statistik in der Politik besser zu verstehen und steht damit im Kontext der Werke von Alain Desrosières, Adam Tooze, Theodor M. Porter und Nico Randeraad. Gleichzeitig untersucht Horstmann die Wechselwirkung zwischen internationalen Organisationen und Kongressen und nationalstaatlichen Institutionen und bewegt sich hier in der neueren Forschungstradition globalgeschichtlicher Untersuchungen.1
Das Buch gliedert sich in drei Hauptkapitel, Einleitung und Schluss. Im ersten
Hauptkapitel untersucht Horstman die «Akademisierung und Veramtlichung» der Statistik und die Veränderung des statistischen Wissenschaftsbegriffs vom 18. bis ins 19. Jahrhundert. Der Autor zeichnet hier die wissenschaftshistorischen Entwicklungen in Preussen nach und erweitert den Blick anschliessend auf die Entwicklung der Statistik in den europäischen Nachbarländern und den USA. Im zweiten Hauptkapitel begibt sich die Untersuchung auf die internationale Ebene und rückt den Expertenaustausch und internationale Wissenschaftsbeziehungen in den Fokus. Dabei zeigt Horstmann, dass sich die internationalen Experten der Statistik zu einer transnationalen Gemeinschaft zusammenfanden und untersucht, wie «[…] der Expertenaustausch in Form von internationalen Kongressen oder anderen Versammlungsarten […] nicht nur Ausdruck einer übergreifenden Tendenz der Internationalisierung, sondern auch der Normierung gesellschaftlicher Handlungsmuster» (S. 158) war. Wissenschaftliche Experten werden hier zu «Standardisierern und Reformern», die auf der transnationalen Ebene «einheitliche Normen und Standards» erarbeiteten, Einblicke in die Verwaltungspraxis anderer Staaten erhielten (S. 159) und auf nationaler Ebene eine «technokratische Staatsintervention» vorantrieben. Die Funktionsweisen des transnationalen Austauschs innerhalb der Expertennetzwerke und das Hineinwirken in die nationale Politik funktionierte im Bereich der Statistik damit analog zu anderen Wissenschaftsbereichen wie Volkswirtschaft, Versicherungsmathematik oder Rechtswissenschaften. Wie der Internationalisierungsprozess die Ideen und Reformen in den statistischen Ämtern Preussens und Deutschlands beeinflusste, untersucht das letzte Hauptkapitel. Hier wird nochmals deutlich, dass der «internationale Vergleich […] einen entscheidenden Schritt für die Etablierung der Statistik als anerkannte universale Wissenschaftsdiziplin» (S. 89) bedeutete. Das letzte Hauptkapitel schliesst mit einem Unterkapitel zur Europäisierung und Globalisierung und zeigt nochmals das «politische Interventionspotential der Statistik» auf.
Jan-Philipp Horstmann taucht in seiner Untersuchung der Entwicklung und Etablierung der statistischen Wissenschaften tief in das reichhaltige Quellenmaterial ein (S. 21). Mitunter ist die Untersuchung so nah am Gegenstand, dass sich offenbar keine ordnenden Überschriften mehr finden liessen: Während Kapitel 1–3 und Kapitel 5 ausführliche thematische Überschriften aufweisen, gliedern sich die Unterüberschriften der sechs Unterkapitel des 4. Kapitels jeweils in «Erste Frage»; «Zweite Frage» usw. (S. 177–254). Dies wirkt sich zwar nicht unbedingt förderlich auf die Übersichtlichkeit des Buches aus, tut aber der inhaltlichen Leistung keinen Abbruch. Denn Horstmann zeichnet nicht nur minutiös die ideengeschichtlichen Grundlagen der Wissenschaft der Statistik im nationalen Kontext nach, sondern zeigt auf, wie die Statistik über den internationalen Vergleich einen Bedeutungsgewinn als Wissenschaft erfuhr. Die junge Wissenschaft befand sich dabei öffentlich immer wieder im Spannungsfeld akademischer und amtlicher Interessen. Horstmann untersucht dazu Akteurskonstellationen, Organisationen, Diskurse, Beschlüsse und Wirkungen des internationalen statistischen Austausches und ordnet sie in den Kontext nationaler Reformprozesse der Amtsstatistik ein. Damit setzt sich seine Untersuchung deutlich von den zahlreichen Arbeiten der Globalgeschichte ab, die bei der Untersuchung internationaler Kongresse häufig auf der transnationalen Ebene verharren. Horstmann gelingt es, mit seinem Untersuchungsgegenstand die transnationale Ebene mit der nationalen zu verbinden und erweitert somit auch den Horizont einer sonst häufig in der nationalen Institutionen- oder Ideengeschichte beschränkten Geschichtswissenschaft. Dass sich diese Herangehensweise nicht mühelos in den Kontext bestehender Theorien einordnen lässt, wird im Verlauf der Arbeit deutlich und hätte nochmals Erwähnung finden dürfen, anstatt dem Versuch der Einordnung zu unterliegen und den Untersuchungsgegenstand pflichtbewusst zwischen die Traditionen der Transfergeschichte und histore croisée einzuordnen. Auch fallen Untersuchungsgegenstand und Einordnung in den theoretischen Rahmen gelegentlich auseinander. So werden zwar die zentralen Autoren wichtiger Konzepte wie Peter Haas transnationale Expertennetzwerke (S. 90) genannt, jedoch fehlt im weiteren Textverlauf häufig der Rückbezug auf den theoretischen Rahmen.
Jan-Philipp Horstmann leistet mit seiner Arbeit einen wichtigen Beitrag, die Interdependenz wissenschaftlicher, amtlicher und politischer Entwicklung zu verstehen und zeigt die Schwierigkeiten einer Wissenschaftsdisziplin auf, internationale Vergleichbarkeit auf der Basis der höchst diversen nationalen Grundlage zu schaffen. Mit einem Bogen in die Gegenwart gelingt es dem Autor, die nicht zu überschätzende Bedeutung der Statistik für politische Prozesse in Erinnerung zu rufen (S. 267). Anstatt also den Einfluss von Expertengruppen auf politische Entscheidungsprozesse durch Wissensautorität und Nähe zu politischen Entscheidungsträgern zu begründen,2 zeigt Horstmann, dass das Geflecht Wissenschaft und Politik in Wahrheit weit komplexer ist. Seine Untersuchung zur «halbamtlichen Wissenschaft» der Statistik zeigt einmal mehr, dass in der Geschichte (werdender) Demokratien den Verwaltungen eine noch immer unterschätzte und zu wenig untersuchte Bedeutung zukommt, die noch weitere Aufmerksamkeit verdient.
Anmerkungen
1 Vgl. u. a. Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009; Isabella Löhr, Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte. Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit 1886–1952, Göttingen 2010; Matthieu Leimgruber, Matthias Schmelzer, The OECD and the International Political Economy since 1948, Basingstoke 2019.
2 Ernst B. Haas, Beyond the Nation-State. Functionalism and International Organization, Stanford 1964; Ariane Leendertz, Experten. Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik, in: Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaft und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2012, S. 337–369; Lutz Raphael, Experten im Sozialstaat, in: Günther Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR, München 1998, S. 231–258; ders., Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 165–193; Anette Schlimm, Ordnungen des Verkehrs. Arbeit an der Moderne – deutsche und britische Verkehrsexpertise im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2011; Margit Szöllösi-Janze, The Scientist as Expert. Fritz Haber and German Chemical Warfare during the First World War and Beyond, in: Friedrich Bretislav u. a. (Hg.), 100 Years of Chemical Warfare. Research, Deployment, Consequences, Heidelberg 2017; dies., Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Stefan Fisch, Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer 168), S. 79–100.
Zitierweise:
Guthörl, Milena: Rezension zu: Horstmann, Jan-Philipp: Halbamtliche Wissenschaft. Internationale Statistikkongresse und preußische Professorenbürokraten, Paderborn 2020, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=145092. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 139-141. Online: <https://doi.org/10.24894/2296–6013.00142>.