T. Meier u.a: Fürsorgen, vorsorgen, versorgen

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Title
Fürsorgen, vorsorgen, versorgen. Soziale Fürsorge im Kanton Zug von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart


Author(s)
Meier, Thomas; Jenzer, Sabine; Akermann, Martina; Christensen, Birgit; Kälin, Judith; Bürgy, Valérie
Published
Zürich 2022: Chronos Verlag
Extent
528 S.
Price
€ 48,00
by
Mirjam Janett, Historisches Institut, Universität Bern

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz wurden in den letzten Jahren breit erforscht. Zunächst befassten sich Studien mit der repressiven Seite des sich ausdifferenzierenden Sozialstaats. Die bundesrätlichen Entschuldigungen von Evelyn Widmer-Schlumpf (2010) bei administrativ versorgten Menschen und Simonetta Sommaruga (2013) bei ehemaligen Verdingkindern und Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen führten dazu, dass sich auch die Politik dem Thema widmete. 2014 setzte das eidgenössische Parlament die unabhängige Expertenkommission «Administrative Versorgung» ein, 2017 lancierte der Schweizerische Nationalfonds das Nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» (NFP 76). Mehrere Kantone zogen nach und gaben ebenfalls Forschungsprojekte in Auftrag.1

Der Kanton Zug liess «die Geschichte der sozialen Fürsorge» (S. 12) von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart von einem Autor:innenkollektiv aufarbeiten. Der Anspruch des Bandes ist es, «alle von der Gesellschaft bereitgestellten Angebote und Massnahmen für Menschen in Notlagen» (S. 15), zu untersuchen. Im Gegensatz zu anderen Studien nimmt diese also nicht «nur» die Fürsorge in den Blick, sondern auch die Sozialversicherungen. Damit habe sie «Pioniercharakter» (S. 469), wie die Autor:innen im Fazit unterstreichen. Tatsächlich befasste sich die Forschung bislang entweder mit der Fürsorge als zweiten sozialstaatlichen Pfeiler oder den Sozialversicherungen, wobei insbesondere die Sozialhilfe kaum erforscht ist.

Im ersten Kapitel kommen zunächst Fürsorgebetroffene und -beteiligte zu Wort – wobei Erfahrungen mit Versorgungen und Heimplatzierungen den Schwerpunkt bilden – sowie Personen, die in der Fürsorge tätig waren. Ausgeblendet bleiben dabei die Erfahrungen von Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen waren, aber keine fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erfahren mussten. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Sozialgesetzgebung, welche die Armenfürsorge, das Vormundschaftswesen und das Sozialversicherungsrecht umfasst. Kapitel drei und vier widmen sich den Verfügungen, Institutionen und Akteuren der Fürsorgelandschaft, Kapitel fünf behandelt den Alltag in Einrichtungen der sozialen Fürsorge. Das Fazit schliesslich beleuchtet Umbrüche und Kontinuitäten der Zuger Fürsorge.

Die Autor:innen zeichnen nach, wie sich die Fürsorge von der ersten staatlichen Absicherung von Armutsrisiken bis zur Sozialgesetzgebung des Wohlfahrtsstaats entwickelte. Mit der «Verordnung über den Gassenbettel» von 1845 verknüpfte Zug ein Bettelverbot erstmals mit der Pflicht des Kantons bzw. der Heimatgemeinden zur Unterstützung armengenössiger Bürgerinnen und Bürger. 1984 trat das Gesetz über die Sozialhilfe anstelle des 1880 erlassenen Armengesetzes. Schlecht abgesichert gegen Armutsrisiken blieben «Fremde», also Menschen ohne Bürgerrecht wie Ausländer:innen und «Flüchtlinge».

Der Föderalismus, das Prinzip der Subsidiarität, also die Delegation staatlicher Aufgaben an die niedrigst mögliche Ebene, und die Verschränkung staatlicher, parastaatlicher und privater Stellen sind Charakteristika des schweizerischen Wohlfahrtstaats, wie die bereits bestehende Sozialstaatsforschung dargelegt hat.2 Die entsprechende Gestaltung der sozialen Sicherheit und die damit verbundenen Kompetenzregelungen sind auch in Zug ersichtlich. Überraschend ist, wie persistent die Inkorporation Privater in die Staatstätigkeit bis heute bleibt. Neben der Asylpolitik baut auch die Sozialhilfe auf älteren fürsorgerischen Strukturen auf, wie Kapitel 2 zeigt. Wie früher hätten die Sozialbehörden dabei einen «grossen Ermessensspielraum» (S. 73).

Kapitel 3 befasst sich u. a. mit der quantitativen Dimension der Fürsorge. Neben der «materiellen Hilfe» (S. 191) umfassen fürsorgerische Massnahmen auch solche mit Zwangscharakter, also die Unterbringung sowohl von Erwachsenen als auch Minderjährigen in Heimen, spezialisierten Einrichtungen wie Arbeitsanstalten und psychiatrischen Kliniken. Statistisch ausgewiesen werden nur die 599 administrativen Versorgungen, die vom Regierungsrat zwischen 1881 bis 1954 vorgenommen wurden. Die gesamte Dimension ist nicht abzuschätzen, weil die Anzahl anderweitiger Einweisungen wie die der Vormundschaftsbehörden oder Freiheitsentzüge aufgrund des Trinkerfürsorgegesetzes nicht bekannt ist (vgl. S. 213).

1981 ersetzte die Revision des ZGB schweizweit die administrative Versorgung durch das Instrument der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE), 2013 folgte die fürsorgerische Unterbringung (FU). Administrative Versorgungen verschwanden also nicht. Zwischen 2006 bis 2018 wurden in Zug aufgrund dieser Gesetze noch jährlich 133 bis 245 Betroffene versorgt. Die einweisenden Instanzen verschoben sich im 21. Jahrhundert von Behörden und anderen Instanzen zu der Medizin und der Psychiatrie, wie eine instruktive Grafik verdeutlicht (vgl. S. 218). Solche Bezüge in die Gegenwart sind aufschlussreich, weil sie zum einen auf die Kontinuität von auf Zwang beruhenden fürsorgerischen Mitteln verweisen. Zum anderen verdeutlichen sie Verschiebungen: Die Psychiatrie nahm in der Vergangenheit eine beratende Funktion im Fürsorgedispositiv ein, heute ist sie offenbar die erste Instanz, die über administrative Gesetze die persönliche Freiheit von Menschen einschränkt.

Im Fazit verweisen die Autor:innen auf das Paradox, dass mit der gesellschaftlichen Liberalisierung und Pluralisierung eine «gesetzliche Normierung» einsetzte (S. 469). Neben der Ausweitung von Massnahmen wie beispielsweise dem Ausbau des Beratungswesens oder dem Einsatz von Medikamenten professionalisierte sich die soziale Fürsorge. Doch trotz des Ausbaus der Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen existieren auch weiterhin ordnungspolitische Motive.

Der Anspruch der Studie, einen umfassenden Einblick in die fast zweihundertjährige Geschichte der Fürsorge des Kantons Zug zu geben, ist ambitioniert. Die Sozialversicherungen, Fürsorge, Einrichtungen, private und staatliche Akteur:innen und die Erfahrung Betroffener werden in für sich stehende Kapitel punktuell und beispielhaft behandelt, zuweilen fehlt aber die Kohärenz. Verstrickungen und Überschneidungen zwischen Massnahmen der Sozialversicherungen und der Fürsorge, aber auch zwischen Behörden, etwa Armenbehörde und Vormundschaft, bleiben unscharf. Auch das Changieren der Zuständigkeiten zwischen Bund, Kanton und Gemeinden könnte stärker herausgearbeitet werden. Dies relativiert zwar den «Pioniercharakter» des Buchs, schmälert aber dessen Ansatz nicht. Eher animiert es zu weiterführenden Studien zur ambivalenten Geschichte des schweizerischen Wohlfahrtsstaats und seinem Schwanken zwischen Disziplinierung und Unterstützung. Die Verschränkungen der Sozial- und Fürsorgepolitik sind komplex, das zeigt der Fall Zug einmal mehr.

Anmerkungen
1 Neben Zug die Kantone Basel-Stadt, Nidwalden, Schaffhausen, Uri und Zürich. Einige Projekte laufen noch.
2 Vgl. z. B. Matthieu Leimgruber, Martin Lengwiler, Die Transformation des Sozialstaats im Zweiten Weltkrieg. Die Schweiz im internationalen Vergleich, in: dies. (Hg.), Umbruch an der «inneren» Front. Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz, 1938–1948, Zürich 2009, S. 9–46

Zitierweise:
Janett, Mirjam: Rezension zu: Meier, Thomas; Jenzer, Sabine; Akermann, Martina; Christensen, Birgit; Kälin, Judith; Bürgy, Valérie: Fürsorgen, vorsorgen, versorgen. Soziale Fürsorge im Kanton Zug von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 137-139. Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.

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