S. Businger u.a.: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri

Cover
Titel
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri.


Autor(en)
Businger, Susanne; Ramsauer, Nadja
Reihe
Historisches Neujahrsblatt 2022 / Beiträge zur Urner Geschichte
Erschienen
Altdorf 2022: Gisler 1843
Anzahl Seiten
155 S.
Preis
CHF 30,00
von
Miriam Baumeister

Mit Blick auf die klassischen Heim- und Anstaltskantone wie beispielsweise der Kanton Bern erscheint der Kanton Uri zunächst als Randphänomen. Doch die vorliegende Studie zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zwischen 1850 und 2013 zeigt auf, von welchem Interesse die Urner Geschichte für das Verständnis der gesamtschweizerischen Sozialgeschichte ist.

Es handelt sich um ein Auftragswerk des Historischen Vereins Uri, der mit der Auswahl der im Forschungsfeld bekannten Autorinnen ein gutes Händchen bewies. Eine Gesamtstudie wie diese liegt nur für wenige Kantone vor. Die Veröffentlichung als Neujahrsblatt, die sich primär an ein interessiertes Laienpublikum im Kanton richtet, hat ein angenehm lesbares Format und Umfang. Satz und Gestaltung sind in diesem Kontext positiv hervorzuheben, ebenso die zahlreichen, wenn auch oft rein illustrativen, Abbildungen. Gleichzeitig bleibt der wissenschaftliche Anspruch stets erhalten und wird unter anderem mittels genauer Quellenbelege in den Fussnoten umgesetzt.

Ziel der Publikation ist es, eine Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in Uri in einem Untersuchungszeitraum von rund 160 Jahren zu leisten. Im Fokus stehen die Betroffenen, ihr individuelles Erleben der Platzierungen in Heimen und Anstalten sowie die Auswirkungen auf ihren weiteren Lebensverlauf. Dabei soll auch die Zahl der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eruiert werden. Weiter wird danach gefragt, mit welchen Begründungen die Behörden solche Massnahmen verfügt haben (S. 10).

Die Autorinnen werteten im Rahmen der Studie den gesamten Bestand des Staatsarchivs Uri «zu den administrativen Versorgungen und Anstaltsanweisungen» (S. 12) und einen Teil der Akten des Kinderheims Altdorf aus. Ausserdem analysierten sie Archivalien zu Landesverweisungen von Ausländer*innen, interkantonalen Heimschaffungen, Wirtshausverboten und sozialpolitischen Veränderungen ab den 1970er Jahren. Ebenfalls flossen die Auswertung von personenbezogenen Akten und Gemeinderatsprotokollen aus fünf Urner Gemeinden sowie vier Interviews zu Erfahrungen in Kinder- und Jugendheimen in die Untersuchung ein. Es werden keine weiteren Ausführungen zur Methode oder Theorie gemacht. Dieser Umstand ist wohl dem Charakter der Publikation geschuldet und tut der Qualität keinen Abbruch. Lediglich die gewählte chronologische Einteilung und die zeitlichen Abläufe hätten stellenweise besser erläutert werden können.

Die Studie gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil (S. 14–43) setzt sich mit der kantonalen Armenpolitik und den damit verbundenen Anstaltsversorgungen aus finanziellen Erwägungen zwischen 1850 und 1945 auseinander. Der zweite und längste Teil (S. 46–129) befasst sich mit den administrativen Versorgungen und Heimeinweisungen von Kantonsangehörigen zwischen 1906 und 1976. Der dritte Teil (S. 132–141) untersucht schliesslich die sozialpolitischen Veränderungen von 1970 bis 2013.

Der erste Teil bietet eine gute historische Herleitung der politischen und sozialen Verhältnisse des Kantons Uri ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Armenfürsorge lag in kommunaler Kompetenz, wurde aber auf Grund der mangelnden Geldmittel von privater und kirchlicher Hand ausgerichtet (S. 18). Das Kapitel besticht durch eine interessante Schwerpunktsetzung (z.B. Ehebeschränkungen, ledige Mütter, Armenhäuser, Landesverweise italienischer Staatsbürger*innen) und der Kontextualisierung zur gesamtschweizerischen Entwicklung, wobei unter anderem die kantonale Armengesetzgebung 1897 (S. 23) und die Einführung des ZGB 1912 (S. 37–43) berücksichtigt wird.

Der zweite Teil zu den administrativen Versorgungen und den Heimplatzierungen ist das Kernstück der Studie. Die quantitative Auswertung ergab eine Gesamtzahl von 340 administrativ Versorgten im Zeitraum von 1905 bis 1970 (S. 56). Es wird deutlich, dass Uri, wie andere ländlich geprägte, katholische Kantone, die administrativen Versorgungen weitaus länger anwandte als Kantone mit städtischen Ballungszentren (S. 58). Zudem wird eine starke Kontinuität der Begründungen für die Verfügung von Massnahmen (z.B. Arbeitsscheue oder Trunksucht) sowie der Zahl der administrativen Versorgungen aufgezeigt (S. 65). Entsprechend spät und langsam erfolgte ihre Abschaffung (S. 94–96). Bei der Versorgung von Kindern fällt insbesondere der bis um die Jahrtausendwende andauernde Einsatz der Ingenbohler Schwestern im Kinderheim Uri ins Auge, der zu strengen Verhältnissen und einem «Nebeneinander von Beharren und Innovation» (S. 129) führte. Zudem war das Heim «multifunktional», das heisst, es wurde unter anderem auch für die Unterbringung von Kindern mit Behinderung genutzt (S 107–110).

Der dritte Teil schlägt einen gelungenen Bogen von den 1970er Jahren bis zur Reform des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts 2013. Diese Art von Kontextualisierung ist neben der genauen Aufarbeitung die grosse Stärke der gesamten Studie. Die Elemente der Fürsorge werden unter Bezugnahme der aktuellen Literatur ausgesprochen gekonnt in den gesamtschweizerischen Kontext eingebunden und laden so immer wieder zu Vergleichen und Reflexionen ein.

Die Studie verdeutlicht, dass das behördliche Handeln, wenn es auch aus heutiger Sicht als unverhältnismässig oder unrecht einzustufen ist, auf rechtsstaatlichen Prinzipien abgestützt war und von den allgemeinen Moralvorstellungen der Gesellschaft getragen wurde. Gleichzeitig machen unter anderem die mangelnde Einhaltung der Verfahrensabläufe und die Verhältnisse in Anstalten und Heimen zahlreiche Unzulänglichkeiten im grösstenteils von Laien getragenen Fürsorgewesen deutlich. Die sehr lesenswerte Studie zeichnet ein interessantes und vielschichtiges Bild der Urner Geschichte, die sich, ländlich und katholisch geprägt, auch hervorragend als Vergleichsfolie für Studien zu anderen Kantonen eignet.

Zitierweise:
Baumeister, Miriam: Rezension zu: Businger, Susanne; Ramsauer, Nadja: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen im Kanton Uri, Altdorf: Gisler 1843 AG, 2022 (Historisches Neujahrsblatt 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 135-137 Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.