K. Orth: Nichtehelichkeit als Normalität

Cover
Titel
Nichtehelichkeit als Normalität. Ledige badische Mütter in Basel im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Orth, Karin
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 39,90
von
Regina Wecker, Historisches Seminar, Universität Basel

Die Schweiz hatte im 19. Jahrhundert eine vergleichsweise niedrige Nichtehelichkeitsquote bei Geburten. In Basel stieg die Quote nach der Aufhebung der kantonalen Strafbestimmungen und der Aufhebung von Heiratsbeschränkungen durch die Bundesverfassung von 1874, blieb aber weiterhin niedrig. Auch im Jahre 2022 hat die Schweiz mit 24,4% nichtehelicher Geburten eine der niedrigsten Quoten in Europa. Interessant, dass Baden-Württemberg mit fast gleichen 24,5% die niedrigste Quote in Deutschland aufweist. Eine interessante historische Kontinuität? Die Studie von Karin Orth beleuchtet in ihrer mikro- und regionalhistorischen Studie über das Leben badischer Mütter in Basel die Situation im 19. Jahrhundert. Der Titel «Nichtehelichkeit als Normalität» gibt das Ergebnis der Studie bereits preis: Die badischen Frauen stellten einen signifikanten Anteil der von den Basler Behörden registrierten nicht verheirateten Mütter.

Mit «Normalität» ist allerdings nicht eine statistische Mehrheit oder gar eine Norm gemeint, betrug doch der Anteil der nichtehelichen Geburten von Badenerinnen an allen nichtehelichen Geburten im Untersuchungszeitraum von 1830 bis 1879 ‹nur› 20,44% (S. 107).1 Die Rate ist allerdings fast doppelt so hoch, wie der Anteil aller nichtehelichen Geburten an den Geburten in Basel, der bei 11,28% lag. Die Badenerinnen brachten also – so Karin Orth – «die Nichtehelichkeit als Lebensform nach Basel» (ebd.). In ihren Herkunftsgebieten «lebten Familien die Nichtehelichkeit» (S. 168) obwohl auch dort – wie in Basel – Behörden und kirchliche Autoritäten diese Lebensformen missbilligten und zu verhindern versuchten. Es waren aber nicht nur die familiären Traditionen, die die Frauen in Basel fortsetzten. Vielmehr verhinderten auch gesetzliche Bestimmungen in Basel (Ehegerichtsordnung und Eherecht, Niederlassungsbestimmungen, Heiratsverbote und Bürgerrecht) sowie die ökonomische Lage die Eheschliessung.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil ist der Badener Herkunftssituation gewidmet. Hier analysiert Orth die geografische und soziale Lage der Frauen, die später in Basel ledig gebaren. Die Hälfte von ihnen stammte aus dem Markgräflerland oder dem Hotzen- und Klosterwald. In zwei Fallstudien untersucht Orth Formen und Traditionen der ehelichen und nichtehelichen Familiengründungen. Im zweiten Teil beschäftigt sich Orth mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Badenerinnen in Basel. Aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Selbstanzeigen für eine nichteheliche Schwangerschaft, geben vor allem die Ehegerichtsprotokolle, die Orth sorgfältig und ausführlich auswertet, ein anschauliches Bild der Lebensumstände der Frauen. Ihre Arbeitsorte waren Basler Fabriken, Privathaushalte und Wirtschaften (S. 114–117). Dabei waren sie erstaunlich oft bereits nach ihrer Ankunft in Basel in Fabriken beschäftigt. Das lässt darauf schliessen, dass sie aufgrund ihrer Verbindungen zu anderen Frauen aus ihrer Gegend, oder auch zu bereits in Basel lebenden Familienangehörigen nicht unbedingt auf die Wohnmöglichkeiten angewiesen waren, die sie als Dienstbotinnen erhalten hätten. Auch «passte» die Vorbildung durch die Textilverarbeitung in ihren Herkunftsgebieten und der Bedarf der Basler Textilfabriken offensichtlich gut zusammen (S. 115). Allerdings wechseln die Badenerinnen oft zwischen der Arbeit in Fabriken, Privathaushalten oder Wirtschaften. In allen Bereichen aber können die Arbeitsverhältnisse als prekär bezeichnet werden. Die Geburt eines Kindes verstärkte diese Prekarität. Um die Arbeitsstelle nicht zu verlieren, verheimlichten Frauen die Schwangerschaft so lange wie möglich, sie versuchten abzutreiben oder in Ausnahmefällen das Kind bei oder nach der Geburt sterben zu lassen. Überlebte das Kind – die Sterblichkeitsrate war hoch – blieb es selten bei der Mutter. Es wurde zu Kostgeberinnen gebracht, sehr oft bei Verwandten in der badischen Heimat «verkosgeldet».

Die Verhandlungen vor dem Ehegericht veranschaulichen die schwierige Situation der Frauen. Hier werden aber auch verschiedentlich die Väter und die Beziehungen zwischen den Eltern sichtbar. Die Väter stammen meist aus der gleichen Region wie die Frauen, fast immer aber haben sie die gleichen, unsicheren Aufenthaltsrechte. Orths Frage, warum die Basler Behörden in dieser «misogynen Gesellschaft» überhaupt ein Interesse daran hatten, die Vaterschaft festzustellen (S. 174, Anm. 90) und z. B. in Vaterschaftsklagen nicht selten den Frauen zu ihrem Recht verhalfen, ist wohl auch damit zu beantworten, dass die erhofften Alimente das Armutsrisiko der Frauen – und allenfalls den Anspruch an Armenbehörden oder Waisenversorgung – verhindern sollten. Deutlich wird hier aber auch, was «Nichtehelichkeit als Normalität» bedeutete: Es ging den Paaren – und zwar den Männern aber auch den Frauen – oft nicht darum zu heiraten. Zwar waren es nicht selten die behördlichen Hürden, die das verhinderten. Aber teilweise wirkte – so Orth – deren Anführung als Ausrede, wenn man in einer Eheschliessung keinen Sinn sah. Nur zu heiraten, um gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen, war im Sinne dieser «Normalität» nicht nötig oder sinnvoll (S. 168 f.).

Hier wäre ein Vergleich interessant. Wie stark unterschied sich ihre Lebenssituation und ihr Sexualverhalten von dem von Frauen aus anderen ländlichen Regionen der Schweiz, die nach Basel eingewandert waren? Oder anders formuliert, wie viel war der «Tradition der Nichtehelichkeit» geschuldet, wie viel war allgemeiner ländliche Herkunft und soziale Schicht?

Die badischen Frauen «unterliefen» das Basler Eherecht, das nichteheliche Sexualbeziehungen verbot, unter Strafe stellte und mit Ausweisung bedrohte (S. 297). In der Schlussbetrachtung fragt Karin Orth danach, ob dieser Haltung eine spezielle «Freiheitliebe» zugrunde liege. Es sei aber – so ihr Fazit – nicht Widerstand gegen gesellschaftliche Normen und auch keine «vorgezogene sexuelle Revolution» (S. 298). Deutlich zeigt Orth, dass die These, die z. B. von Tilly und Scott in den siebziger Jahren vertreten wurde, zumindest hier nicht zutrifft. Diese These besagt, dass Frauen, die vom Lande in die Stadt zogen, die ländlichen Eheanbahnungsformen beibehielten, zu denen sexuelle Kontakte in Hinblick auf eine Eheschliessung gehörten, in ihrer Erwartung dann aber getäuscht wurden, da die gesellschaftliche Kontrolle des Dorfes fehlte. Die Badenerinnen hatten oft keine Eheschliessung erwartet. Dass sie unverheiratet blieben, war kein «Bruch mit einer vom Dorf bekannten Lebensform, sondern […] deren Fortsetzung» (S. 298). Sie orientierten sich in «erstaunlich geringem Mass» an bäuerlichen, kirchlichen oder bürgerlichen Sexualnormen (ebd.).

Karin Orth hat mit ihrer dichten Beschreibung, der genauen Analyse vielfältiger Quellenbestände, ausgezeichnete Einblicke in die Lebensverhältnisse einer Gruppe von Frauen ermöglicht, die keine Selbstzeugnisse hinterlassen haben. Sie legt gleichzeitig die Konstruktion regionaler Beziehungen offen, aber auch den letztlich gescheiterten Versuch von Behörden, Einwanderung zu steuern. Es sind die Frauen, die unter diesen Versuchen leiden – oder vielleicht sogar noch stärker, ihre Kinder – wie die Autorin in einem Nebensatz für die Wünschbarkeit weiterer Untersuchungen andeutet (S. 301 und Anm. 9).

Anmerkung:
1 Von 7,95% am Anfang des Zeitraums stieg der Anteil auf 32,08% zwischen 1860 und 1869 und
sank danach auf 16,56% zwischen 1870 und 1879.

Zitierweise:
Wecker, Regina: Rezension zu: Orth, Karin: Nichtehelichkeit als Normalität. Ledige badische Mütter in Basel im 19. Jahrhundert, Göttingen 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 133-135 Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.