E. Emeliantseva Koller: Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa

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Titel
Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa. Glaubensenthusiasten um die Prophetin Ekaterina Tatarinova und den Pseudomessias Jakob Frank im Vergleich (1750–1850)


Autor(en)
Emeliantseva Koller, Ekaterina
Reihe
Lebenswelten osteuropäischer Juden
Erschienen
Wien 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
von
Alexis Hofmeister, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (GDA)

Ekaterina Emeliantseva Koller legt in Form der überarbeiteten Fassung ihrer 2018 an der Universität Basel eingereichten Dissertationsschrift eine äusserst ambitionierte historische Vergleichsstudie vor. Ihr asynchroner, asymmetrischer und zwischen Warschau und Sankt Petersburg angesiedelter Vergleich betritt in mehrfacher Hinsicht Neuland. Bei den in Beziehung zu setzenden Gruppen handelt es sich um religiöse Kleinstgruppen, die auch bereits von den Zeitgenossen als Sekten oder abfälliger als Sektierer bezeichnet wurden. Es handelt sich um die Warschauer Anhängerinnen und Anhänger des jüdischen Antinomisten und Charismatikers Jakob Frank (polnisch: Jakób Józef Frank) (1726–1791) sowie um den Petersburger Frömmigkeitskreis, der sich um die aus lutherischer Familie stammende, nominell rechtgläubige (russisch-orthodoxe) Mystikerin Ekaterina Filippovna Tatarinova (geb. Freifrau von Buxhoeveden, 1783–1856) versammelte. Zunächst ist jeglicher Vergleich von Frömmigkeiten erschwert durch die Unmöglichkeit, den historischen Akteurinnen und Akteuren ins Herz zu schauen. Daher betrachtet Emeliantseva Koller nicht die Frömmigkeit an sich, sondern ihre Praktiken und das diese Frömmigkeitspraxis rahmende soziale Milieu, ja bisweilen sogar entsprechende Interieurs. Sie nähert sich den beiden religiösen Gruppen bzw. ihren sozialen Kreisen auf mikrohistorischen Pfaden. Jede noch so glaubhafte autobiographische Quelle darf freilich nicht als besiegeltes Zeugnis wahrer Innerlichkeit gelesen werden. Jedoch verdient es der in entsprechenden Texten erhobene Anspruch, durch die Historikerin oder den Historiker in seiner Weltdeutung ernst genommen zu werden. Sodann vergleicht Emeliantseva Koller zwei Personenkreise, die als Glaubensenthusiasten wie Grenzgänger keinesfalls dieselbe Trennlinie überschritten haben und sich noch nicht einmal in Richtung derselben Religion bewegt haben. Und ob tatsächlich in beiden Fällen der Übertritt bzw. die Entfernung von dem vorher gelebten Glauben gleich weit ging, sei dahingestellt. Beziehungen oder Bezüge zwischen beiden Gruppen sind nicht bekannt und weil der Pseudomessias Frank einerseits und die Gottesmutter von Sankt Petersburg andererseits auch ausserhalb der Religionsgeschichte Osteuropas durchaus unterschiedliches historisches Gewicht besassen, muss der Vergleich phänomenologisch erfolgen. Emeliantseva Koller argumentiert in ihrer Studie allerdings nicht im theologischen oder ideengeschichtlichen Sinne, wie dies vor ihr etwa Historiker des Sabbatianismus oder der Skopzen und anderer russländischer antinomistischer Bewegungen getan haben. Schliesslich belegt die hier vorgelegte Studie einmal mehr und ganz en passant die Bedeutung der Religions- bzw. Frömmigkeitsgeschichte für die osteuropäische Geschichte insgesamt. Vergleichbare Detailstudien zur mannigfaltigen Landschaft populärer wie exklusiver Frömmigkeitspraktiken in Osteuropa sind Desiderate und die bei zukünftigen Untersuchungen erwartbaren und hierdurch sichtbar werdenden sozialen Folgen religiöser Überzeugungen wären ein relevanter Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte von Frömmigkeit und Religion. Eine ausserhalb Russlands und Sankt Petersburgs eher weniger bekannte Frauengestalt wie die Tatarinova neben einen durchaus und nicht zuletzt durch die Literaturnobelpreisvergabe von 2018 an Olga Tokarczuk (Die Jakobsbücher, aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, Zürich: Kampa Verlag 2019.) auch ausserjüdisch nicht unbeachtet gebliebene Gestalt wie Jakob Frank zu stellen, ist innovativ und bekräftigt den Anspruch einer global bzw. anthropologisch argumentierenden osteuropäischen Geschichte. Wegen seiner lebensweltlichen Vorgehensweise ist der Band sehr gut in der u. a. von Heiko Haumann herausgegebenen Reihe «Lebenswelten osteuropäischer Juden» aufgehoben. Emeliantseva Koller geht systematisch vor, indem sie die Untersuchung in zwei etwa gleich grosse Teile gliedert, die sich jeweils mit einer der beiden zu untersuchenden Gruppen befassen. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum die Warschauer Frankisten, als historisch früher angesiedelte Akteure nach dem Tatarinova-Kapitel behandelt werden. In einem vorangestellten einführenden Teil werden die Gesichtspunkte des Vergleichs, das Tertium Comparationis erläutert. Ein knappes und eher zu wenig analytisch vorgehendes Schlusskapitel fasst die Überlegungen Emeliantseva Kollers zusammen. Im Ergebnis liefert Emeliantseva Koller einen Beitrag zur Rekonstruktion historischer Lebenswelten und exklusiver Frömmigkeitspraktiken in zwei besonders konfliktbehafteten Fällen. Da Ihre Quellen nur zu einem kleinen Teil von den Akteuren selbst stammen, hat es einen besonderen Aufwand erfordert, einzelne biographische Profile zu konturieren. Oft können auch nur kollektivbiographische Aussagen getroffen werden. Die von Emeliantseva Koller eingeführten Begriffe der situativen Religiosität sowie der Liminalität in Bezug auf das ambivalente, rollen- wie kontextabhängige kommunikative Verhalten der historischen Akteure, die zudem regelmässig unter Rechtfertigungszwang gerieten, scheinen besser geeignet als etwa die im Titel verwandten Begriffe Grenzgänger und Glaubensenthusiasten, Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen aufzuzeigen und so den anspruchsvollen Vergleich zu ermöglichen. Imperiale Bezüge beider Gruppen haben für die Untersuchung nur am Rande eine Rolle spielen können. Viel wichtiger wäre es dagegen gewesen, den Rahmen der lebensweltlichen Untersuchungsperspektive gezielt zu verlassen und nach den übergreifenden geistigen bzw. geistlichen Herausforderungen der Zeit zwischen ausklingender Aufklärung und anhebender Neu-Konfessionalisierung im östlichen Europa zu fragen. Offensichtlich wurden Praktiken ekstatischer Frömmigkeit in Warschau wie Sankt Petersburg über soziale und religiöse Grenzen von Lebenswelten hinweg von Frauen wie Männern als Antwort auf letztere Fragen empfunden. Darauf nachdrücklich hingewiesen zu haben, ist das bleibende Verdienst von Emeliantseva Kollers methoden- und theoriengesättigter Studie.

Zitierweise:
Hofmeister, Alexis: Rezension zu: Emeliantseva Koller, Ekaterina: Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa. Glaubensenthusiasten um die Prophetin Ekaterina Tatarinova und den Pseudomessias Jakob Frank im Vergleich (1750–1850), Wien 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 131-133. Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.