L. Chappuis: Étreintes paillardes

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Title
Étreintes paillardes. Familles et enfants illégitimes à Genève sous l’Ancien Régime (1670–1794)


Author(s)
Chappuis, Loraine
Published
Genève 2022: Georg éditeur
Extent
530 S.
by
Tim Buser

Loraine Chappuis macht das meistgeahndete Verbrechen im Genf des Ancien Régimes zum Gegenstand ihrer umfangreichen Studie: «Paillardise». Der als «Unzucht» zu übersetzende und insbesondere im französischsprachig-reformierten Kontext benutzte Begriff meint, in Abgrenzung zu anderen Sittlichkeitsdelikten, spezifisch jene un- und vorehelichen Sexualkontakte, die zu einer Schwangerschaft führten. Ganze 3420 solcher Fälle sind in den Genfer Ratsbüchern zwischen 1670 und 1794 dokumentiert. Die Autorin verortet ihre kriminalitätshistorische Dissertation in der Historiografie der Sexualität und der Familie (S. 29).

Chappuis gliedert ihr Buch in drei Hauptteile: Die quantitativen Analysen der Gerichtsakten erlauben es ihr, im ersten Teil das Genfer Repressionsdispositiv als Perspektive auf die «Paillardise» zu wählen. Es zeigt sich eine komplexe Gemengelage verschiedener Akteur:innen mit jeweils eigenen Interessen hinsichtlich der «gestion urbaine de l’illégitimité» (S. 16). So, wie «Paillardise» zugleich theologisch als Sünde und juristisch als Verbrechen diskursiv verhandelt wurde, waren ebenfalls die Verfahren mit Elementen von Zivil- und Strafprozessen «hybrider Natur» (S. 115). Quantitativ stellt Chappuis eine bemerkenswerte Kontinuität der justiziellen Ahndung illegitimer Sexualität fest. Ausserdem erweisen sich die schwangeren Frauen sozial weniger isoliert als in der Historiografie oft angenommen. Die Ahndung der «Paillardise» versteht Chappuis wegen der vielen Selbstanklagen als sozial legitimiert. Körperstrafe und Verbannung sprach der Rat mit der Zeit seltener, Gefängnisstrafen nahmen zu. Im 18. Jahrhundert ging es in den Prozessen hauptsächlich darum, die finanzielle Verantwortung für das illegitime Kind zu regeln – diese wurde vermehrt den Vätern zugesprochen – und die Tat gegenüber den Ratsherren und Gott zu sühnen («réparation pénale» S. 194).

Der zweite Buchteil widmet sich der «Paillardise» aus der Perspektive der Angeklagten, deren Argumentationen in einer Auswertung von Stichprobejahren untersucht werden. Dabei stellt Chappuis geschlechtsspezifische Strategien fest: Frauen rechtfertigten ihre sexuellen Verfehlungen meist mit einem mehr oder weniger explizit geäusserten Eheversprechen, materiellen Geschenken (deren Legitimität die unscharfe Grenze zur Prostitution verdeutlicht) oder mit Gewalt seitens des Partners. Angeklagte Männer versuchten hingegen oft, den Ruf der Frau zu diskreditieren oder leugneten grundsätzlich jeglichen Sexualkontakt. Einige entzogen sich auch der Justiz. Die Autorin skizziert das Bild einer Sexualität, die grundsätzlich als Ergebnis einer männlichen Initiative verstanden wurde, wobei das Einverständnis der Frauen stets impliziert war. Nicht nur hinsichtlich des Geschlechtsakts, auch was die Ehe und Familiengründung betraf, zieht Chappuis Erkenntnisse aus den Narrativen der Angeklagten, die sie mit normativen Quellen abgleicht. So zeigt sich beispielsweise das Spannungsverhältnis zwischen der reformierten Notwendigkeit eines Eheversprechens vor Zeug:innen und dem sozialen Druck, der auf eine Ehe als Wiedergutmachung des Skandals abzielte. Allerdings nahmen ab 1750 die gerichtlich angeordneten Eheschliessungen ab, da sie aus aufklärerischer Perspektive als schädlich bewertet wurden. Ab diesem Zeitpunkt begannen Frauen ihre Sexualkontakte zunehmend mit Liebesgefühlen zu rechtfertigen.

Im dritten Teil widmet sich Chappuis den illegitim geborenen Kindern, die aus den untersuchten Fällen resultierten. Hier sind es insbesondere Kirchenbücher sowie das Archiv des «Hôpital général», der staatlichen Fürsorgeinstitution, die verschiedene Aspekte der «bâtardise» hervorbringen. Diese war sowohl juristischer Status als auch soziales Stigma. Obwohl die Begrifflichkeiten des Phänomens negativ konnotiert waren, relativiert Chappuis das individuell erlebte Stigma anhand der Analyse der den illegitimen Kindern gegebenen Vor- und Nachnamen. Ausserdem stellt sie nach einer ersten vom Skandal geprägten Phase bald familiäre Anpassungen fest, die oft zur Integration des Kindes in eines der «multiples modèles familiaux» (S. 428) führten. Insbesondere die Anerkennung durch den leiblichen Vater trug zur sozialen Kompensation des Stigmas bei. Immer grössere Relevanz schreibt sie dem «Hôpital général» zu, das sich einer wachsenden Legitimität erfreute und sich mit verschiedenen Massnahmen für das Wohlergehen der illegitimen Kinder einsetzte – und zwar nicht nur derjenigen, die vom verantwortlich gesprochenen Elternteil gegen eine Gebühr der Institution abgegeben wurden.

Diesen Aspekt der wachsenden Relevanz der staatlichen Fürsorge sowie denjenigen der Kontinuität der «pratiques ‹intimes› populaires» (S. 435) führt Chappuis in der «conclusion générale» als Haupterkenntnisse auf. Während Ersterer nicht explizit in der Historiografie der Familie verortet wird, lässt der Letztere Chappuis die These der «sexuellen Revolution» im 18. Jahrhundert für Genf verwerfen. 1 Somit bringt sie die vielen quantitativen Befunde, stets mit Quellenzitaten qualitativ unterlegt und anhand der 57 Grafiken bzw. Tabellen veranschaulicht, kondensiert auf den Punkt. Dabei verliert sie dank der akribischen Quellenarbeit die agierenden Menschen selbst nie aus dem Blick. Dass der Schlussteil mit seinem hohen Abstraktionsgrad etwas kurz ausfällt und keine ausführliche Reflexion der Befunde darstellt, wird durch die Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Kapitel kompensiert. «Étreintes paillardes» lässt sich als methodisch soliden und empirisch reichhaltigen Beitrag zur Grundlagenforschung der Sexualitäts-, Familien-, Ehe- sowie Kriminalitätsgeschichte und nicht zuletzt der Geschichte Genfs empfehlen.

Anmerkungen
1 Vgl. Edward Shorter, The Making of the Modern Family, New York 1975; Tim Hitchcock, English Sexualities, 1700–1800, Basingstoke 1997; Faramerz Dabhoiwala, The Origins of Sex. A History of the First Sexual Revolution, London 2012.

Zitierweise:
Buser, Tim: Rezension zu: Chappuis, Loraine: Étreintes paillardes. Familles et enfants illégitimes à Genève sous l’Ancien Régime (1670–1794), Genève 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 130-131. Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.

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