H. R. Schmidt u.a. (Hrsg): «Seelenbeschreibungen».

Cover
Titel
Seelenbeschreibungen. Eine frühneuzeitliche Quellengattung und ihr konfessions- und bildungsgeschichtlicher Kontext


Herausgeber
Schmidt, Heinrich Richard; Albrecht-Birkner, Veronika; Egger, Michael; Ehrenpreis, Stefan; Scheurer, Janine
Reihe
Konfession und Literalität in der Vormoderne/Confession and Literacy in the Pre Modern Er
Erschienen
Berlin 2022: de Gruyter
Anzahl Seiten
351 S.
von
Claudia Opitz-Belakhal, Historisches Seminar, Universität Basel

Der von einer Gruppe von Forschenden herausgegebene Band über «Seelenbeschreibungen» bzw. «Libri status animarum» ist das Produkt einer längeren, vom SNF geförderten Forschungszusammenarbeit und ein wirklich sehr gelungener Überblick über die historische Alphabetisierungsforschung einerseits, die Quellengattung der «Seelenbeschreibungen» andererseits. Wie die Herausgeber:innen im Vorwort deutlich herausstellen, ist diese Quellengattung bislang noch kaum in den Blick der Geschichtsforschung gelangt; vor allem wurde sie noch kaum je für die Alphabetisierungsforschung genutzt, wie auch Heinrich R. Schmidt in seinem umfangreichen Überblick über den Forschungsstand bedauernd festhält. Noch ist die Karte der Länder und Regionen, in denen sowohl die Alphabetisierungsforschung wie auch die Nutzung von «Seelenbeschreibungen» systematisch vorgenommen wurden, voll weisser Flecke – ein umso bedauerlicher Tatbestand, als diese Quellengattung tatsächlich sehr weit verbreitet war und in sämtlichen Konfessionen genutzt wurde, auch wenn die dafür verwendeten Begriffe nicht identisch sind, wie Veronika Albrecht-Birkner in ihrem Beitrag zeigt.

So könnte bzw. kann auch ein methodisch valabler Konfessionsvergleich im Hinblick auf die Alphabetisierung vorgenommen werden, der umso dringender erscheint, als hier noch immer ältere Vorstellungen von der Rückständigkeit der katholischen Regionen einerseits vorherrschen, andererseits aber selbst für protestantische Gebiete ein allzu grosses Stadt-Land-Gefälle angenommen wird. Gerade letztere Annahme wird im Gemeinschaftsbeitrag der Projektbeteiligten etwa für Thüringen und den Raum Oldenburg eindrücklich widerlegt. Auch in Hermann Ehmers und Sabine Holtz’ Beiträgen über die württembergischen Seelenregister als bildungsgeschichtliche Quellen und die ländliche Lesekultur im lutherischen Herzogtum Württemberg stehen solche älteren Forschungsmeinungen auf dem Prüfstand und können aufgrund der Quellenlage überzeugend zurückgewiesen werden. Ähnliches zeigen auch die Beiträge von Daniel Lindmark über das vormoderne Schweden, dessen Bauernschaft trotz der schwierigen topografischen Bedingungen tatsächlich überraschend literat war, und ebenso, mit einigen Abstrichen, Oddvar Johan Jensen für Norwegen.

Allerdings ist die Forschung im Hinblick auf Konfessionsvergleiche noch sehr unbefriedigend, wird doch für den katholischen Raum die Alphabetisierungsforschung weiterhin von älteren Forschungen, die vor allem die Signier-, weniger jedoch die Lesefähigkeit in den Mittelpunkt rückte, dominiert. Hier stehen breiter angelegte Forschungsaktivitäten noch aus, wie die Herausgeber:innen unisono in ihren Beiträgen bedauernd feststellen. Sie lassen indes keine Zweifel, dass es entsprechende Quellenbestände gibt; in Veronika Albrecht-Birkners Beitrag wird das explizit deutlich, in anderen Beiträgen, etwa von Harm Klueting über das Hochstift Münster und in Stefan Ehrenpreis Beitrag über das niedere Schulwesen in katholischen Gebieten des Alten Reiches vor 1750, wird dies exemplarisch sichtbar gemacht.

Die Kernfrage des Buches und der neugegründeten Buchreihe nach der konfessionellen Bedeutung des Lesens (weniger des Schreibens, wie sich in allen Beiträgen zeigt), stellt schon Heinrich R. Schmidt in seinem Forschungsüberblick und beantwortet sie annäherungsweise so: Es handelt sich bei den Bemühungen zur Verbesserung der Literalität und der Alphabetisierung um eine komplexe Unternehmung, die von allen Seiten – Obrigkeit, kirchliche wie weltliche, aber auch von den «Untertanen», d. h. auch der bäuerlichen Bevölkerung selbst, vorangetrieben, allerdings in «Notzeiten», also in Phasen konfessioneller Bedrohung bzw. Krisen mit grösserer Dringlichkeit «von oben» gefordert und befördert wurde. Diese Phasen stellen sich nicht nur je nach Konfession, sondern vor allem je nach Region unterschiedlich dar, hatten aber zweifellos in Zeiten der Konfessionskonflikte (vor allem nach der Beendigung des Dreissigjährigen Krieges) eine besondere Dringlichkeit und Aktualität. Dies lässt sich vor allem am konfessionellen Flickenteppich der Alten Eidgenossenschaft und des Alten Reiches besonders gut studieren; dass indes das konfessionell höchst homogene Schweden sich einer unerwartet hohen Alphabetisierungsquote auch bei der ländlichen Bevölkerung schon früh im ausgehenden 17. Jahrhundert rühmen konnte, steht allerdings etwas quer zu den an sich höchst einleuchtenden (Hypo‐)Thesen der Herausgeber:innen zum Zusammenhang von Konfession und Literalität.

Dass die Frage der Geschlechterdifferenz in allen Beiträgen zumindest angesprochen wird, ist ebenfalls erfreulich, wenn auch nicht überraschend, spielt sie doch in der Bildungsforschung, auch der historischen, schon seit den 1980er-Jahren eine wichtige Rolle. Im Forschungsüberblick von Heinrich R. Schmidt wird dieser Themenkomplex allerdings leider nicht angesprochen, so dass zwar in den Beiträgen im Einzelnen jeweils durchaus interessante – und teilweise auch höchst divergente – Geschlechterrelationen im Hinblick auf das Lesen (und übrigens auch das Schreiben) festgestellt werden können, die von annähernd egalitären bis zu höchst gegensätzlichen Kompetenzraten reichen. Dass und vor allem warum dies so ist, ist allein schon eine höchst spannende und immer noch – auch und gerade im Hinblick auf die Konfessionsunterschiede – nur unzureichend erklärte Sachlage. Dem in weiteren Publikationen – im Sinne einer intersektionell informierten Quellen- und Datenanalyse – noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen, wäre mein Wunsch an das Forscher:innenteam, zusammen mit der Hoffnung, dass mit diesem Band tatsächlich die «Seelenbeschreibungen» als Quellenbasis für die historische Bildungsforschung breitere Aufmerksamkeit erhalten, und dass das interessante Publikationsprojekt weitergeführt werden kann.

Zitierweise:
Opitz-Belakhal, Claudia: Rezension zu: Schmidt, Heinrich Richard; Albrecht-Birkner, Veronika; Egger, Michael; Ehrenpreis, Stefan; Scheurer, Janine (Hg.): «Seelenbeschreibungen». Eine frühneuzeitliche Quellengattung und ihr konfessions- und bildungsgeschichtlicher Kontext, Berlin 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 12-130. Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.