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Titel
Hofzwerge. Kleinwüchsige Menschen an deutschsprachigen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Seemann, Eva
Reihe
Frühneuzeit-Forschungen
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 45,00 €
von
Nadir Weber

Zwerge verbinden wir heute vor allem mit dem fiktionalen Genre des Märchens. In der Zeit, als die Brüder Grimm Prinzessin Schneewittchen mit sieben so bezeichneten Nebenfiguren umgaben, war das Zusammentreffen derart ungleicher Figuren aber gar nicht so aussergewöhnlich, im Gegenteil: Für Angehörige des fürstlichen Standes waren «Zwerge» bis um 1800 ständige Begleiter und wichtige Statusattribute gewesen. Dass es sich dabei nicht um eine reine Theaterrolle und auch nicht um eine zwingend herabwürdigende Bezeichnung für kleingewachsene Menschen handelte, sondern um ein europaweit verbreitetes Amt am Fürstenhof, zeigt die Monografie von Eva Seemann eindrücklich auf.

Das auf eine an der Universität Zürich verteidigte Dissertation zurückgehende Werk gliedert sich in fünf Kapitel, umrahmt von einer konzeptionellen Einleitung und einem Schlussteil. In der Einleitung grenzt die Autorin ihren Gegenstand von älteren Forschungen ab, welche das Phänomen der Hofzwerge etwas vorschnell im Kuriositätenkabinett einer fremd gewordenen höfischen Kultur einschlossen oder der Genealogie von Freak-Shows zuordneten. Mit einem akteurszentrierten Zugang, der Ansätze aus der neueren Sozial- und Kulturgeschichte des Hofes mit Konzepten der Körpergeschichte und der Disability Studies verbindet, schafft die Autorin demgegenüber ein tragfähiges analytisches Gerüst, um der Rolle und Agency der mehr als 250 Personen, die sie im Zeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert als «Zwerge» an deutschen Fürstenhöfen identifiziert hat, besser gerecht zu werden. Dabei formuliert sie bereits zu Beginn die Ausgangshypothese, dass es sich bei den Hofzwergen nicht um ein Randphänomen, sondern um ein «Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Fürstenhofes» (S. 13) gehandelt habe.

Als «Zwerge» bezeichnete kleinwüchsige Menschen gelangten auf unterschiedlichen Wegen an den Hof, nicht selten als Geschenke zwischen ihren Dienstherren. Darin zeigt sich eine aus moderner Sicht irritierende Verdinglichung dieser Personen, die dem zeitgenössischen Umgang mit versklavten Menschen aus Afrika ähnelt, die an europäischen Höfen ebenfalls als Diener anzutreffen waren, aber auch von «langen Kerls» und anderen Rekruten, die nicht immer freiwillig in die fürstlichen Heere eintraten. Wie die Körpergrösse waren Selbstbestimmungsrechte in der ständischen Gesellschaft eine relationale und graduelle Kategorie – wobei sich die Position im Lebensverlauf ändern konnte. Gerade der Dienst am Hof bot hier besondere Chancen. So waren im Falle der Hofzwerge oftmals deren Eltern, die sich Bildungs- und soziale Aufstiegschancen für ihre im Vergleich zu Alters- und Geschlechtsgenossen als signifikant kleinwüchsig taxierten Kinder erhofften, in die «Rekrutierung» mit einbezogen. Dies deutet die Autorin dahingehend, dass der auffällige Körper als besonderes Kapital aufgefasst worden sei, von dem die Person und ihre Familie profitieren konnten.

Aus der Sicht der Hoforganisation waren Zwerge «institutionalisierte Aussenseiter» (S. 119), die auf Hofstaatslisten vielfach als eigene Gruppe aufgeführt wurden. Mit dem höfischen Amt eines «Kammerzwergs» verbanden sich bestimmte Rollenerwartungen und Entschädigungsansprüche, die teilweise über die eigentliche Dienstzeit hinaus in Anspruch genommen werden konnten. Zwar war die deutliche Mehrzahl der erfassten Hofzwerge männlichen Geschlechts, doch dienten auch weibliche kleinwüchsige Menschen in den Hofstaaten von Fürstinnen. Teilweise wurden diese kleinwüchsigen Dienerinnen und Diener untereinander, teilweise aber auch mit anderen Hofangehörigen verheiratet. Amt und Person waren aufgrund der körperlichen Voraussetzungen noch weniger getrennt als bei anderen Hofämtern. Manche der früh in den Dienst aufgenommenen Kleinwüchsigen wuchsen mit den Fürstenkindern zusammen auf und wurden zu Objekten quasi-elterlicher Fürsorge, die sich selbst bei jenen fortsetzte, die ihrem Amt im wörtlichen Sinne entwuchsen.

Die Aufgaben der Kleinwüchsigen am Hof bestanden zu grossen Teilen im für den Kammerdienst typischen «Aufwarten» und kleinen Diensttätigkeiten, fallweise aber auch in spektakulären Auftritten bei Hoffesten und Zeremonien, die in den Kapiteln IV und V detailliert analysiert werden. Die kleinen Menschen wurden dabei zu Agenten des Komischen, das sie durch spezielle Kostüme und gezielte Performanz erzeugten. Zwerge galten im zeitgenössischen medizinischen Diskurs nicht nur als von Gott gewollte Körperwunder, sondern auch als Melancholievertreiber. In dynastischen Staaten, deren Fortbestand von der Gesundheit der fürstlichen Familie abhing, wurden sie damit systemrelevant. Darüber hinaus spielten Hofzwerge in der politischen Ikonographie eine wichtige Rolle, indem ihre Kopräsenz die Grösse des Fürsten im wörtlichen und übertragenen Sinne betonte. Jenseits aller Inszenierung wurden manche Hofzwerge aber auch zu engen Vertrauten ihrer Fürstinnen und Fürsten. Als solche wurden sie als Berater eingesetzt, mit diplomatischen Aufgaben betraut und nach dem Tod intensiv betrauert.

Insgesamt gelingt es Eva Seemann in ihrer umsichtig argumentierenden und zugleich anschaulichen Studie, das Phänomen der Hofzwerge an deutschen und europäischen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit umfassend und überzeugend darzustellen. Mit bewundernswerter Akribie hat die Autorin aus teilweise entlegenen Quellen wie etwa kirchlichen Sterberegistern Informationen zu einzelnen Akteur:innen zusammengetragen und zu einer überzeugenden Darstellung verwoben. Gerade dieser alltagsnahe Blick macht kleinwüchsige Menschen als höfische Akteursgruppe mit vielfältigen Rollen und individuellen Schicksalen sichtbar und öffnet zugleich neue Perspektiven auf das gesamte System. Die in der Studie aufgezeigten engen Zusammenhänge von Körperlichkeit, Unterhaltung und Statuspolitik sowie von subalterner Diensttätigkeit und persönlichem Nahverhältnis erweitern unser Bild des Fürstenhofes in der Frühen Neuzeit und regen zu weiteren Forschungen an.

Zitierweise:
Weber, Nadir: Rezension zu: Seemann, Eva: Hofzwerge. Kleinwüchsige Menschen an deutschsprachigen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit, Göttingen 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 126-128. Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.

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