J. Mathieu: Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500

Cover
Titel
Mount Sacred. Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500


Autor(en)
Mathieu, Jon
Erschienen
Wien 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 35,00
von
Pezzoli-Olgiati Daria

Der Historiker und Fachmann für Alpen- und Bergkulturen Jon Mathieu hat sich die herausfordernde Aufgabe gestellt, eine kurze Globalgeschichte heiliger Berge zu schreiben. Das ist ein fast so kühnes Abenteuer wie deren Besteigung, und dies aus verschiedenen Gründen: Wie schreibt man eine kurze Globalgeschichte über ein Raumphänomen, das sowohl materiell auf diesem Planeten als auch in der Imagination so weit verbreitet ist? Die Antwort des Autors ist deutlich und bestechend: Indem man exemplarisch anhand von ausgewählten Studien vorgeht, Arbeitsdefinitionen flexibel hält und als heuristische Instrumente modelliert, sich deutlich und bescheiden gegenüber dem Forschungsgegenstand positioniert und die eigene Faszination auf die Leserinnen und Leser überträgt.

Das Buch ist in drei Teilen gegliedert. Anreise in zwei Etappen legt die methodologische Annäherungsweise dar. In Kapitel 1 werden definitorische Fragen angesprochen, während in Kapitel 2 das Spannungsverhältnis von Glauben und Wissenschaft im Umgang mit heiligen Bergen im Hinblick auf seine Veränderungen seit der Frühen Neuzeit bis heute im Zentrum steht.

Kapitel 3 bis 10 werden unter dem Titel Vor Ort, zu gegebener Zeit subsumiert. In diesem Hauptteil werden die Fallstudien mit ihren kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, religions- und wissenschaftsgeschichtlichen Eigenarten vorgestellt. Es handelt sich um eine äusserst faszinierende Reise, die in Tibet beim Mount Kailash beginnt und durch fünf Kontinente führt. In China besichtigen wir den Tai Shan, bevor wir zur Grenze Nordkoreas gelangen, um uns mit dem Paektusan und seinen unterschiedlichen Deutungsgeschichten in China und in Nordkorea zu beschäftigen. Die Reise bringt uns zurück nach Europa, wo vor allem in Österreich und in Italien mit Kreuzen versehene Berge betrachtet und ihre vielfältigen Bedeutungen reflektiert werden. Die Bewegung von Osten nach Westen wird weitergeführt und so befinden wir uns anschliessend in den USA und besteigen den Mount Rushmore mit den eingesprengten monumentalen Präsidentengesichtern und machen uns mit ihren kontroversen Interpretationen vertraut. Wir kehren um und reisen nach Afrika, mit einem kurzen Abstecher beim Kilimandscharo in Tansania. Die Reise endet in Australien auf dem Uluru.

Der letzte Teil, Die Reise geht weiter, teilt den Lesenden ausdrücklich mit, was sie schon erahnten: Es gibt mehr zu bereisen als das, was zwischen zwei Buchdeckeln Platz finden kann. In diesem Schlussteil werden wesentliche Befunde aus diesem globalen Vergleich reflektiert und die Frage nach der Rolle und der Transformation von heiligen Bergen differenziert und – zwingendermassen fragmentarisch – anhand von wesentlichen Spannungsfeldern vertieft. Die betrachteten kulturellen Aneignungen von Bergen durch vielfältige und sich stetig verändernde religiöse Praktiken und Erzählungen werden im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Umwelt, von Kolonialismus und Antikolonialismus, von unterschiedlichen gesellschaftlichen und Gender-Rollen konzis verglichen und charakterisiert. Dienen «heilige» Berge im 21. Jahrhundert einer Veränderung des Verhältnisses von Menschen und Natur, könnten sie etwa eine Ressource für den Klimaschutz sein? Die Frage wird gestellt und richtigerweise offengelassen, denn die besprochenen Fallstudien lassen sich diesbezüglich nicht harmonisieren und zeigen auf überzeugende Weise die Komplexität von Religion als einem vielschichtigen Phänomen.

In einer Zeit, in der Religionsforschung im akademischen Kanon der Wissenschaften marginalisiert wird, hat der Autor einen mutigen und weiterführenden Schritt gewagt. Das Buch ist nicht nur für Historiker*innen relevant, sondern ist transdisziplinär
anschlussfähig und für alle weiterführend, die sich für kulturwissenschaftliche Zugänge zu Raum und Bergen interessieren. Die fliessende Sprache und sichere Leseführung, kombiniert mit einem erfrischenden Sinn für Humor, machen die Lektüre zum Genuss.

Der Historiker Jon Mathieu nähert sich dem Thema Mount Sacred als einem kulturellen Diskurs – die religionswissenschaftlichen Debatten im Umgang mit sperrigen Begriffen wie «Religion» oder «heilig» werden in diesem Rahmen freilich nicht im Detail erörtert. Vielmehr untersucht er besonders bedeutsame und dichte Beispiele von Bergen, die über eine längere Zeitspanne im Zentrum diverser Erzählungen und Praktiken stehen, aus denen unterschiedliche Gruppen und Menschen vielfältige Bedeutungen und Orientierungen formen. Damit wird deutlich gemacht, dass Religion eine kulturelle Praxis ist, die sich in der Wechselwirkung von Landschaftselementen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sowie wissenschaftlichen Diskursen herauskristallisiert. Somit zeigt Mathieu eindrücklich, dass die Heiligkeit des Berges nicht als eine intrinsische Eigenschaft zu erfassen ist, sondern das Ergebnis komplexer, manchmal sich über Jahrhunderte entwickelnder Aushandlungsprozesse. Dabei spielen Abgrenzungsstrategien und Konfliktsituationen eine zentrale Rolle. Religiöse Bedeutungszuweisungen entstehen somit in Auseinandersetzungen, in denen theologische Reflexionen und Legitimationen durch Eliten mit der materiellen Aneignung des Berges – beispielsweise als Schrift-, als Symbolträger oder als Skulptur – und mit Handlungen von Menschen (Pilgerfahrten, Besichtigungen, Opferungen) interagieren. Um die Komplexität von heiligen Bergen in einer Zeitspanne von mehr als 500 Jahren global zu erfassen, müssen also die mehrschichtigen Interaktionen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen und beteiligten Akteuren berücksichtigt werden. Wissenschaftliche Konzepte und eine emische Perspektive dienen dazu, den Vergleich zu gestalten und zu prüfen. Dennoch kann die Theoriebildung nur eine heuristische Rolle übernehmen und dazu dienen, die Perspektive der Forschenden kritisch zu begleiten.

Jon Matthieu ist mit diesem Buch der Spagat zwischen der Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit von religiösen Deutungen ausgewählter Berge und dem interkulturellen Vergleich gut gelungen, weil er nicht nach Vollständigkeit gesucht, sondern die Fragmentarität einzelner Besichtigungen ertragen und mit uns Lesenden auf faszinierende Weise geteilt hat.

Zitierweise:
Pezzoli-Olgiati, Daria: Rezension zu: Mathieu, Jon: Mount Sacred. Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500, Wien 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74(1), 2024, S. 123-124. Online: <https://10.24894/2296–6013.00142>.