J. Schmidt: Arbeit und Umwelt in der Geschichte des Menschen

Cover
Titel
Zwischen Notwendigkeit und Selbstverwirklichung. Arbeit und Umwelt in der Geschichte des Menschen


Autor(en)
Schmidt, Jörg
Erschienen
München 2019: Oekom Verlag
Anzahl Seiten
397 S.
von
Peter Hersche

Dieses Werk, dessen verspätete Besprechung der Rezensent auf seine Kappe zu nehmen hat, beeindruckt gleich beim ersten Durchblättern: Es handelt sich um nichts weniger als eine Totalgeschichte der menschlichen Arbeit von den Anfängen der neolithischen Revolution bis zur Gegenwart. Der Mut des Verfassers ist zu bewundern, die Lücken sind etwas nachsichtig zu beurteilen. Geographisch ist das Werk ebenfalls weit gespannt und beschränkt sich keineswegs auf den entwickelten Westen, sondern bezieht, wann immer möglich, auch die anderen Kontinente mit ein, insbesondere China und die präkolumbianischen Kulturen Lateinamerikas.
Das Buch gliedert sich in vier grosse Teile: Haus-, Land-, Werk- und Bergarbeit. Der letztere umfasst nicht nur den klassischen Bergbau, sondern als Residualkategorie auch die erst in neuerer Zeit wichtigen Bereiche der Chemie- und Energiearbeit. Vom Verfasser bewusst weggelassen wird der dritte Sektor, die Dienstleistungen. Vielleicht erzwang die Fülle des Stoffes diese Beschränkung. Sie ist gleichwohl bedauerlich. Einerseits gab es Dienstleistungsarbeit schon in alten Zeiten: Man denke an das Wirken von Priestern und Schreibern, an die Justiz und andere staatliche Tätigkeiten der Grossreiche, an Wissenschaften wie Mathematik, Astronomie, Geographie usw. Andererseits arbeiten heutzutage im entwickelten Westen mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in diesem Bereich, was dem Verfasser zwar bewusst ist, er es aber nur in den letzten Abschnitten gerade streift.

Voran geschaltet ist dem systematischen Teil eine didaktisch geschickte Darstellung der noch nicht allzu lang zurückliegenden Arbeitsverhältnisse in einem Dorf der Rhön, einem der rückständigsten Gebiete Deutschlands, in dem jedenfalls ältere Leute wenigstens vom Hörensagen, wenn nicht aus eigener Anschauung, das alltägliche Arbeitspensum eines durchschnittlichen Bewohners vor der totalen Industrialisierung noch kennen dürften. Man kann sich so eine anschauliche Vorstellung der folgenden Buchabschnitte machen. Gerne hätte man hier indes erfahren, auf welche Quellen sich der Verfasser stützt. Aus beiläufigen Bemerkungen kann man vermuten, es seien ältere regionale und volkskundliche Literatur, auch Interviews mit älteren Leuten und vermutlich Rückprojektionen aus rezenter Zeit, namentlich bei den Zahlenangaben. Diese sind, wie im ganzen Buch, mit einiger Vorsicht zu betrachten und stehen teilweise auch im Widerspruch zu dem auf S. 18 genannten Prozentsatz der in der Landwirtschaft Beschäftigten.

Namentlich die im ersten Abschnitt dargestellte Hausarbeit war in den bisherigen, vergleichsweise seltenen Studien eher unterbelichtet, so wie noch heute diese überwiegend von Frauen geleisteten Tätigkeiten nicht zum BSP zählen. So erfährt man hier viel Neues. Das Kapitel gibt dem Verfasser auch Gelegenheit, den sein ganzes Werk durchziehenden zentralen Begriff des «oikos» einzuführen. Er betont auch später immer wieder die auch zahlenmässig belegbare Bedeutung der im «oikos» geleisteten Arbeit gegenüber anderen Formen (den etwas preziösen Begriff «oikoshaft» hätte man vielleicht einfach mit «häuslich» ersetzen können). Das ist eine wichtige Korrektur jener Wirtschaftsgeschichten, die sich im Wesentlichen auf die heute dominanten «fortschrittlichen» Sektoren des Gewerbes und der Industrie beschränken. Erst die Folgen der Industrialisierung drängten, endgültig im 20. Jahrhundert, die «Oikosarbeit» gänzlich an den Rand, wobei sich aber das gesamte Arbeitsvolumen gleichwohl nicht verringerte. Frühe Ausnahmen, etwa das Weben, werden nicht vergessen.

Im Abschnitt über die Landarbeit fand ich besonders interessant die Hinweise auf die ständig abnehmenden selbständigen Kompetenzen der Bauern, die ihn schliess-lich zum «verlängerten Arm» insbesondere der chemischen Industrie werden liessen (S. 218). Allerdings machte ich spätestens in diesem Abschnitt auch eine etwas unbehagliche Feststellung. Der Autor stützt sich für seine Arbeit auf ältere und neuere Sekundärliteratur, was im Rahmen solch gross gespannter Darstellungen sicher zu vertreten ist. Er führt aber, wie aus dem relativ schmalen Literaturverzeichnis zu entnehmen ist, fast nur selbständig erschienene Publikationen auf. Auch wenn man arbeitsökonomische Vorbehalte äussern kann: Die Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie hätte zum Kapitel Landwirtschaft sicher noch vieles bieten können. Bedauerlich ist ferner, dass grundlegende Einzelstudien, wie diejenigen von Rainer Beck (insbesondere die Mikrogeschichte «Unterfinning») nicht berücksichtigt wurden.

Dass in einem im oekom-Verlag erschienenen Werk ökologisch problematische Entwicklungen der Arbeit kritisch reflektiert werden, ist wohl selbstverständlich. Der Verfasser tut dies unaufdringlich, aber dennoch mit genügender Deutlichkeit, schon im Abschnitt über die Landwirtschaft (217ff.) und dann besonders in den Abschnitten 3 und 4 zu Gewerbe/Handwerk/Industrie und der «Bergarbeit». Die Aktualität des Werkes ist damit gegeben, denn der hierher gehörende Problemberg beschäftigt uns täglich. Dass damit auch der «oikos» in den Hintergrund tritt, überrascht nicht. Beeindruckend sind in diesen Kapiteln die technischen Fachkenntnisse des Autors, die auch in den wenigen selbstgezeichneten Abbildungen zum Ausdruck kommen. Was ihm aber offenbar etwas Kopfzerbrechen gemacht hat, ist der ganze Aufbau des Werkes. Vielleicht hat ihn einfach die Masse des Stoffes überfordert. Manchmal stösst man auf Fehlanzeigen: So etwa wird uns im Titel von Kapitel 1.2.3 eine Darstellung des Schusters versprochen, sie kommt aber dann im Text überhaupt nicht vor! Dies obschon dieses Gewerbe doch ein sehr wichtiges war. Ich hätte mir ferner neben den eigentlichen Hirtennomaden (194ff.) eine Darstellung der auf verschieden hohen Stafeln in den Alpen wirtschaftenden «Halbnomaden» gewünscht. Im Kapitel über die Energie wird nicht auf die frühe Nutzung der Wasserkraft, gerade auch in den Alpen, eingegangen. Der Autor macht zwar häufig Hinweise auf jeweils andere Kapitel. Dennoch bleibt einem, wenn man Auskunft zu einem speziellen Bereich wünscht, mühseliges Herumsuchen im Text nicht erspart. Hier erweist sich das Fehlen eines Registers als entscheidendes Defizit. Auf zwei sinnstörende Druckfehler sei noch hingewiesen, weil sie auf eine falsche Fährte führen können: Auf S. 282 muss es heissen «Lehrgerüst», auf S. 340 «Schwaz».

Eine letzte kritische Bemerkung sei noch erlaubt. Der Autor arbeitet, abgesehen von kurzen Schlussbemerkungen, weitgehend deskriptiv. Die Frage, warum eine Entwicklung so und nicht anders eingetreten ist, beschäftigt ihn nicht gross, gerade für die Industrielle Revolution. Auch hier kann man arbeitsökonomische Überlegungen geltend machen, vielleicht hat den Verfasser auch die seit Max Weber uferlose und dennoch wenig fruchtbare Diskussion dazu abgeschreckt. Merkwürdigerweise widmet er jedoch der selben Frage in den frühesten Zeiten ziemlich viel Aufmerksamkeit, ausgerechnet einer Epoche, wo wir eigentlich nur archäologische Quellen haben und daher allerlei Spekulationen und Hypothesen breiter Raum gegönnt ist, und wir auch vielfach, wie selbst der Autor häufig zugeben muss, gar nichts wissen. Meines Erachtens hätten die Ausführungen zur Zeit vor den klassischen antiken Kulturen kräftig gekürzt werden können, zugunsten einer breiteren Darstellung der Moderne, wann immer man diese auch beginnen lassen will.

Der Inhalt des Werkes von Jörg Schmidt umfasst nicht das zentrale Spektrum der SZRKG. Wenn man aber Alltagskultur – warum nicht? – zur Kulturgeschichte rechnet, so ist das vorliegende Buch, trotz einigen Mängeln, einer der wichtigsten, ja unverzichtbaren Beiträge dazu. Dem Autor ist dafür grosser Dank geschuldet.

Zitierweise:
Hersche, Peter: Rezension zu: Schmidt, Jörg: Zwischen Notwendigkeit und Selbstverwirklichung. Arbeit und Umwelt in der Geschichte des Menschen, München 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 117, 2023, S. 465-467. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00155.