C. Auffarth: Eine europäische Religionsgeschichte

Cover
Titel
Opfer. Eine europäische Religionsgeschichte


Autor(en)
Auffarth, Christoph
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
251 S.
von
Helmut Zander, Faculté de Théologie, Université de Fribourg

Opfer – Europäische Religionsgeschichte – Theologische Bibliothek: Das sind die Schlagbäume, hinter denen Christoph Auffarth Wege in die Welt der wohl zentralen Praxis von Religionen öffnet. Zweifelsohne macht ein solches Buch Sinn, wo doch «das Opfer» in den Kasematten der Althistorikerinnen oder in der Semantik rechter Nationalisten zu verstauben scheint. Demgegenüber gelingt es Auffarth, zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Universität Bremen, die Relevanz des Themas durch eine 3’000-jährige Geschichte bis in die Opferkulte der Gegenwart nachzuzeichnen.

Das Buch ist grosso modo chronologisch aufgebaut und trägt die Leser.innen von antiken Opfervorstellungen über römisch-katholische und protestantische Opferkonzeptionen bis in die Nutzung des Opfers für die weltanschauliche Stabilisierung von Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert (Nationalismus, Nationalsozialismus, neue Kriege). In dem für mich anregendsten Kapitel beschreibt Auffarth die Praxis in der antiken Polis, die quellentechnisch schwer zu erheben ist, unter souveräner Nutzung der Ergebnisse von literarischer Quellenkritik und Archäologie. Das mittelalterliche Europa fehlt, insbesondere das Übergehen der intellektuellen Debatten der Scholastik ist ein Wermutstropfen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Metaphorisierung des blutigen Opfers, etwa als (Selbst-)Hingabe in spirituellen Praktiken oder als Nutzen für die Gesellschaft, wie sie Fridays for Future für das Klima fordern. Vorgeschaltet sind den historischen Kapiteln Ausführungen zur Theorie des Opfers in Religionswissenschaft und Soziologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, also der formativen Phase der Religionswissenschaft.

Was an seiner Darstellung eine «europäische Religionsgeschichte» sei, erläutert Auffahrt wie folgt: Es gebe in ihr «‹mitlaufende Alternativen› [...]. Sie treten nicht nur als religiöse Alternativen auf, sondern als Kunst, Wissenschaft und immer wieder als Antike [sic] auf. Solch eine Europäische Religionsgeschichte am Beispiel des Opfers unternehme ich hier» (26f). Auffarth greift damit einen disziplinpolitischen Schlüsselbegriff der (deutsch¬¬sprachigen) Religionswissenschaft auf, den Burkhard Gladigow (1939–2022) benutzt hatte, um das Profil der Religionswissenschaft im Kanon kulturwissenschaftlicher Fächer und insbesondere gegenüber der Theologie zu schärfen, die fast monopolistisch das Feld der europäischen Religionsgeschichte beherrschte. Als «mitlaufend» konnte dabei grosso modo alles verstanden werden, was außerhalb der Großkirchen lag (Islam, Judentum, Esoterik, Zivilreligion ...). Dieses Konzept, das Gladigow seit Mitte der 1990er Jahre entwickelt hat, ist aber nur punktuell aufgegriffen worden und hat nicht annähernd den Stellenwert erlangt, den gegenwartsbezogene Forschungen und diejenigen zu nichtchristlichen Religionen besitzen. Hier will Auffarth Abhilfe schaffen.

Aber die «mitlaufenden Alternativen» kommen praktisch nicht vor. Der Islam bringt es auf eine Seite grundsätzlicher Überlegungen (162f.) plus eine halbe Seite zu «Selbstmordattentätern» (216), das nachantike Judentum auf wenige eingestreute Bemerkungen, kleine christliche oder nichtchristliche Gruppen fehlen ganz. Man kann dieses Defizit aber positiv lesen, insofern sich Auffahrt aus den faktischen Selektionszwängen dieser Forschungsperspektive auf «mitlaufende Alternativen» löst und das tut, was man zwingend auch tun muss, wenn man europäische Religionsgeschichte betreiben will: Er analysiert die hegemonialen Akteure. Deren Erforschung ist in der deutschsprachigen Religionswissenschaft weiterhin ein riesiges Defizit, weil die Einstiegshürden aufgrund der immensen Zahl von Publikationen aus der Theologie und der Anforderungen an Sprachkompetenzen (über die Auffarth verfügt) sehr hoch sind. Insofern hat Auffahrt der Religionswissenschaft mit seiner randständigen Thematisierung der «mitlaufenden Alternativen» vielleicht kontraintentional einen großen Dienst erwiesen.

Schließlich ist dieses Buch in der Theologischen Bibliothek erschienen. Das mag pragmatische Gründe haben, etwa einen religionswissenschaftlichen Zugriff für Theolog.inn.en zu präsentieren. Aber damit gerät Auffahrt in Untiefen, und das hängt mit dem gerade im deutschsprachigen Raum gestressten Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie zusammen sowie mit Auffarths Doppelqualifikation als evangelischer Theologe und Religionswissenschaftler. Denn er legt auf der einen Seite in seiner Rolle als Religionswissenschaftler Wert auf eine intentional neutrale Perspektive, etwa wenn er «Heiden» in Anführungszeichen setzt (25) oder den Begriff «Paganismus» ablehnt (107). Auf der anderen Seite nutzt Auffahrt immer wieder normative Diktionen, in denen seine Rolle als Theologe sichtbar wird; dazu einige Beispiele: Den biblischen Gottesnamen kürzt er, wenn er über das Judentum spricht, jüdischen Theologien folgend mit den Radikalen JHWH ab (114, 124, 147 u. ö.); in der ersten Generation nach Jesus sei «das Charisma» unter anderem von Gesetzlichkeit und guten Werken «überwuchert» worden (116); in der Abendmahlsdebatte von 1529 zwischen deutschen und schweizerischen Reformatoren sieht er «Wortklauber» (186) diskutieren. In seiner Deutung der frühneuzeitlichen Debatten um Opfer, Abendmahl und Eucharistie dominiert die protestantisch-theologische Literatur, katholische und ostkirchliche Werke kommen kaum vor. Eine minutiöse Lektüre würde zwischen den Zeilen weitere normative Einschlüsse zu Tage fördern.

Insgesamt ist ein gut lesbarer Überblick eines vernachlässigten Themas entstanden, der zugleich die Grundsatzfrage stellt, wie die Religionswissenschaft mit begrenzten personellen (und sprachlichen) Ressourcen eine europäische Religionsgeschichte analysieren kann – und wie man das sinnvolle Postulat intentionaler Neutralität (auch angesichts der Forderung nach einer «engagierten Religionswissenschaft») in der Forschungspraxis umsetzt.

Zitierweise:
Zander, Helmut: Rezension zu: Auffarth, Christoph: Opfer. Eine europäische Religionsgeschichte, Göttingen 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 117, 2023, S. 462-464. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00155.

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