: Die vielen Gesichter der Religion. Religionssoziologische Analysen jenseits der Säkularisierung. Frankfurt am Main 2022 : Campus Verlag, ISBN 978-3-5935-1428-4 279 S.

: Häutungen einer umstrittenen Institution. Zur Soziologie der katholischen Kirche. Frankfurt am Main 2023 : Campus Verlag, ISBN 978-3-5935-1429-1 232 S.

von
Staf Hellemans

Karl Gabriel (1942) hat, anlässlich seines 80. Geburtstags, zwei Bücher publiziert, die sein Gesamtwerk überschauen und zugleich abschliessen wollen. Das eine Buch, Die vielen Gesichter der Religion (2022), erörtert seinen allgemeinen Ansatz zur Religion. Das zweite Buch, Häutungen einer umstrittenen Institution (2023) analysiert die stürmische Entwicklungen in der katholischen Kirche angesichts ihrer komplexen Relation mit der Moderne. Beide Bücher sind, meiner Meinung nach, «gefundenes Fressen» für Kirchen- und Religionshistoriker.

In der Entwicklung der deutschsprachigen Religionssoziologie kann man, Detlef Pollack folgend, vier 4 Phasen unterscheiden: 1) die klassische Phase, mit u.a. Max Weber, dem vielleicht einflussreichsten Soziologen überhaupt; 2) die kirchensoziologische Phase unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg; 3) die sogenannte «neoklassische» Phase, mit an erster Stelle Thomas Luckmann mit seinem The Invisible Religion (ursprünglich 1963 auf Deutsch und 1967 auf Englisch erschienen, siehe die Neuauflagen von 1991, respektive 2023), aber auch Joachim Matthes, Franz-Xaver Kaufmann und Niklas Luhmann; 4) seit den 1990er Jahren eine neue Phase und Blüte mit Karl Gabriel, Monika Wohlrab-Sahr, Detlef Pollack, Hubert Knoblauch, Hans Joas und vielen anderen.

Karl Gabriel ist ein Schüler von Franz-Xaver Kaufmann. Zusammen haben sie, in Kritik und Fortsetzung der eher abstrakten Religions- und Säkularisierungssoziologie, eine mehr historisch vorangehende «Christentumssoziologie» entwickelt. Der Schwerpunkt ihrer Analysen ist der Katholizismus. Ihre noch immer lesenswerte Aufsatzsammlung Zur Soziologie des Katholizismus aus 1980 kann als Startpunkt gelten. Gabriel vertiefte diesen Ansatz erheblich weiter in seinem mittlerweile schon klassisch gewordenen Christentum zwischen Tradition und Postmoderne (1992). In dieser Forschungstradition hat er – alleine, zusammen mit Kaufmann oder mit anderen Religionssoziologen – eine beeindruckende Menge von Forschungen vorangetrieben und Bücher und Aufsatzsammlungen publiziert. Mit den zwei Büchern aus 2022 und 2023 schliesst er nun, sozusagen, seine lange Karriere ab.

Die vielen Gesichter der Religion. Religionssoziologische Analysen jenseits der Säkularisierung (2022) präsentiert seine allgemeine Perspektive auf die Evolution der Religion in der Moderne. Die Religionssoziologie in den 1960er und 1970er Jahren war durchtränkt von der Säkularisierungstheorie. Gabriel startet dann auch, in den ersten zwei Kapiteln des Buches, mit einem Überblick und einer Bewertung dieses Theoriestranges. Ohne sie vollständig zur Seite zu schieben, liegt die Gefahr dieses Theorieansatzes, seiner Meinung nach, in der «Blickverengung» (16), die sie erzeugt. Man soll «die vielen Gesichter der Religion jenseits der Säkularisierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit [...] rücken» (16). Zugleich lehnt er auch die Gegenthese der Säkularisierung, die Desäkularisierung oder «Wiederkehr der Götter» (wie Gabriel es nach Friedrich Wilhelm Graf bevorzugt schreibt), als empirisch nicht haltbar und theoretisch arm ab. Man soll «jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter» (20) – so der Titel des ersten und grundlegenden Kapitels – «einen unvoreingenommenen Blick auf religiöse wie säkulare Phänomene in der modernen Gesellschaft» (16) gewinnen. Gabriel findet diese Perspektive in einem gewandelten, an Shmuel Eisenstadts Konzept der «multiplen Moderne» angelehnten Modernisierungsansatz. Dieser untersucht den Wandel der Religion als Produkt der Wechselwirkung religiöser Akteure mit der Moderne. «Moderne» – hier immer die Zeit nach 1800 – ist dabei nicht aufzufassen als ein homogenes, säkulares, religionsfeindliches Ganzes, als die andere Seite der Religion, sondern als die multiple Umgebung, an der sich die Religionen (im Plural) und die Menschen abarbeiten, mit der sie ihre Religion und ihr Leben kreativ neu gestalten. Die Moderne ist also für religiöse Akteure nicht nur eine Bedrohung, sondern in erster Linie eine produktive Ressource. So fungiert z.B. die funktionale Differenzierung als struktureller Hintergrund, den die katholische Kirche im 19. Jahrhundert für ihre fortschreitende Verkirchlichung genutzt hat (siehe hier vor allem Kap. 4).

In den weiteren Kapiteln des Buches wird diese Sichtweise – religiöse Modernisierung als treibender Motor der Transformationen der Religion in der Moderne – als theoretischer Rahmen genutzt, um verschiedene Dimensionen dieser religiösen Modernisierung auszuleuchten, so die religiöse Individualisierung (Kap. 6), die gestiegene Kontingenz in der Moderne und ihre Folgen für Religion und Kirche (Kap. 7), die öffentliche Wirksamkeit der Religion (Kap. 8 und 9), die Globalisierung (Kap. 10) und der religiöse Pluralismus (Kap. 11). Insgesamt zeigt sich also eine breit gefächerte, stets historisch orientierte Vorgehensweise.

Das ist auch der Fall in dem zweiten Buch, Häutungen einer umstrittenen Institution. Zur Soziologie der katholischen Kirche (2023). Es ist als Komplement zum ersten Buch zu verstehen und fokussiert sich auf die Analyse der katholischen Kirche. Es ist Gabriels Lehrer Franz-Xaver Kaufmann zum 90. Geburtstag gewidmet. Wie im ersten Buch wird der globale Ansatz in den ersten Kapiteln des zweiten Buches präsentiert und danach werden einige zentrale Themen beleuchtet.

Der religiöse Modernisierungsansatz, der im ersten Buch erörtert wird, fungiert also hier als vorausgesetzter, theoretischer Rahmen. Die katholische Kirche wird «als eine zur Moderne gehörige Größe betrachtet» (15). In der langen Geschichte der katholischen Kirche unterscheidet Gabriel vier Konstellationen – «Häutungen» wie er es nennt (daher der Titel des zweiten Buches). Die päpstliche Revolution schuf zwischen dem 11. bis 13. Jahrhundert die Grundstruktur (Klerikerkirche mit Papst an der Spitze); im Reformationszeitalter entstand ein konfessionalisierter Katholizismus als einer der drei grossen Konfessionen; im 19. Jahrhundert wurde im Kontext der Moderne ein geschlossenes katholisches Milieu mit modernen Vereinen und Organisationen unter der Führung einer hochzentralisierten Kirche ausgebaut; nach 1960 gab es zwar den «Aufbruch des Zweiten Vatikanums» (20), gleichzeitig aber auch den «Wendepunkt in Richtung des größten Abbruchs kirchlichen Lebens in der jüngeren Geschichte der Kirche» (166).

Das Buch kreist um diese letzte Häutung. Gabriel typisiert sie grundsätzlich als wankend «zwischen Aufbruch und Absturz» (z. B. 14 und 49), stärker noch, als «Abbruch im Aufbruch» (166). Die Jahre um das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) werden als Aufbruchszeit umschrieben. Sie wurde aber schon 1968 mit der Publikation der Enzyklika Humanae Vitae abgebrochen. In der Folgezeit wurde die Kirche tief geprägt durch das Pontifikat Johannes’ Paul II. (1978–2005), so sehr, dass Gabriel fürchtet, dass «die Kirche der Pius-Päpste nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von einer ‹wojtyłischen Kirche› abgelöst wird» (46). Die Lage dieser Kirche charakterisiert Gabriel als widersprüchlich, polarisiert, paradox: «Nach Außen [...] nimmt sie zentrale Errungenschaften der kulturellen Moderne auf» (47) (wie Religionsfreiheit, Menschenrechte, Demokratisierung). «Nach Innen hält sie aber an der im 19. Jahrhundert angenommen Struktur in verschärfter Form fest und erweist sich als reformunfähig» (ibidem). Insgesamt erweist die gegenwärtige Konstellation der katholischen Kirche sich als «eine partielle, unvollendet gebliebene Häutung» (23): «Die Kirche steht vor der Herausforderung, dem ersten Schritt der Versöhnung mit den Grundlagen der Moderne im Verhältnis nach Außen einen zweiten Schritt im Innenverhältnis folgen zu lassen» (23). Wie Kaufmann fokussiert also auch Gabriel auf die schwere Krise, in der sich die katholische Kirche aktuell befindet. Er verweist dabei einerseits auf eine strukturelle Ursache: «die Auflösung des Katholizismus als Sozialform» (61), d.h. die Erosion der umfassenden Subkultur, die im 19. Jahrhundert aufgebaut worden war. Aber er hält sicher, wie gesehen, auch die katholische Kirche selbst, und vor allem ihre Führung, verantwortlich für den Niedergang, wegen ihrer Abwendung von den Reformversuchen, die in und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil so viel Dynamik ausgelöst hatten.

Nach der Analyse der Grosswetterlage in den ersten vier Kapiteln werden wichtige Aspekte der Entwicklungen in der gegenwärtigen katholischen Kirche genauer untersucht: der kirchliche Umgang mit dem Pluralismus anhand der Anerkennung der Religionsfreiheit im Zweiten Vatikanischen Konzil, der Kampf um die Gestaltung der Liturgie, die Transformation der Autorität in der Kirche, vor allem der päpstlichen Autorität, die gegenwärtige Rolle der katholischen Kirche in der Zivilgesellschaft, und, abschliessend, die katholische Soziallehre. Besonders hervorheben möchte ich das Kapitel über «die Kreuzung des Jahres 1968, an der man falsch abgebogen ist» (169). Gabriel beschreibt hier seine persönlichen Erfahrungen als Student mit der Studentenrevolte und mit den zwei gegensätzlichen Galionsfiguren der Tübinger Fakultät für katholische Theologie, Hans Küng und Joseph Ratzinger, und verbindet diese in gelungener Weise mit seiner soziologischen Gesamtanalyse.

Was ist von Karl Gabriels beiden Büchern zu halten? Welches Interesse könnten sie haben für Religionshistorikerinnen und -historiker? Erstens, die meisten Kapitel der beiden Bücher sind leicht geänderte Neufassungen schon publizierter Aufsätze, die in den vergangenen zwanzig Jahren verstreut in Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind. Die Bücher bilden eine Synthese seines Lebenswerks. Zweitens, die zwei Bücher bieten, meiner Meinung nach, zwei entgegengesetzte Einstufungen. Das erste Buch ist verhalten optimistisch: man soll jenseits der Säkularisungstheorie und der These der Wiederkehr der Götter die Neufassungen sowohl der alten wie der neuen Formen der Religion als Produkte der Auseinandersetzung der religiösen Akteure mit der Moderne bedenken und untersuchen. Das zweite Buch bringt eher Enttäuschung zum Vorschein, freilich viel stärker in der «Anpreisung» auf dem hinteren Buchdeckel als im Buch selber. Gabriel führt die gegenwärtige Krise der katholischen Kirche vor allem auf rekurrierende Fehlentwicklungen und Selbstblockaden der Kirche zurück, die schon mit der ghettoartigen Neuerfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert begannen und sich, mit Ausnahme der kurzen Zeit um das Zweite Vatikanische Konzil herum, immer wieder wiederholen. Die katholische Kirche scheint also die Möglichkeiten der religiösen Modernisierung, aus internen Gründen, nicht richtig oder nur einseitig zu nützen. Ich neige dazu, die strukturellen Ursachen zu prämiieren und habe Bedenken gegen die Schilderung des Katholizismus als «halb modern». In der Gegenwart hat die gesellschaftsgestaltende Kraft aller grossinstitutionalisierter Religion nachgelassen. Ausserdem kann man sich fragen, ob eine liberale Reformpolitik seitens der Kirche bessere Resultate hätte vorlegen können. Drittens möchte ich aber meine hohe Achtung für das Lebenswerk Karl Gabriels zum Ausdruck bringen. Er und sein Lehrer Kaufmann bieten Religionshistorikern und -wissenschaftlern aller Art, meines Erachtens, einen insgesamt angemessenen Ansatz, um Religion und Kirche in der Moderne zu erforschen. Anstatt in den gewohnten oppositionellen Modus zu verfallen – wozu z.B. die meisten Säkularisierungstheorien neigen – rufen Gabriel cum suis auf, das produktive Miteinander von Religion und Moderne zu untersuchen: wie die Moderne als Grundlage für Religion und Kirche fungiert und wie Religion und Kirche sich in der Folge in die Moderne einreihen, dabei, wie andere Grossbewegungen sich gegen Entwicklungen stellen, die ihr – möglicherweise zeitweise – als nicht passend erscheinen. Diese Verarbeitung der Moderne durch Religionen und Kirchen kann gelingen, aber auch misslingen. Ihre wissenschaftliche Deutung erfordert eine historische Analyse der konkreten und vielseitigen Geschichte einer Religion und/oder Kirche. Diese grundlegende Herangehensweise wird uns in den beiden Büchern Gabriels noch mal, in gereifter Form, vorgetragen.

Zitierweise:
Hellemans, Staf: Rezension zu: Gabriel, Karl: Häutungen einer umstrittenen Institution. Zur Soziologie der katholischen Kirche, Campus 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 117, 2023, S. 451-454. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00155.