Denkmalpflege Nidwalden (Hg.): Häuser für eine Minderheit

Titel
Häuser für eine Minderheit. Die reformierten Kirchen in Nidwalden


Herausgeber
Denkmalpflege Nidwalden
Reihe
Baukultur in Nidwalden
Erschienen
Stans 2022: Fachstelle für Denkmalpflege Nidwalden
Anzahl Seiten
71 S.
von
David Zimmer, -, -

Im Jahr 1850 wohnten im ganzen Kanton Nidwalden lediglich 12 Personen protestantischer Konfession (0,1% der Gesamtbevölkerung), ein halbes Jahrhundert später, 1900, immerhin 170 (1,3%) – womit Nidwalden von allen Schweizer Kantonen den tiefsten Bevölkerungsanteil an Reformierten aufwies. Im Laufe des 20. Jahrhunderts nahm deren Anteil kontinuierlich zu, besonders stark in den 1930er Jahren, als er sich innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelte (1930: 2,9%; 1941: 6,7%). Hauptgründe waren der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, dessen militärtechnische Konsequenzen in der Innerschweiz und der Zuzug entsprechender Fachkräfte mitsamt ihren Familien aus mehrheitlich reformierten Kantonen: Gründung der Pilatus-Flugzeugwerke in Stans, Bau des Militärflugplatzes in Buochs, starke Präsenz von Angehörigen des Festungswachtkorps.
Angesichts des alles dominierenden Katholizismus befanden sich die bereits in Nidwalden ansässigen und die neu zuziehenden Reformierten in einer ausgeprägten konfessionellen Diasporasituation. Zwar hatte sich bereits 1898 die Protestantische Genossenschaft Stans gebildet, doch zur Befriedigung ihrer religiös-seelsorgerlichen Bedürfnisse waren die Nidwaldner Reformierten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf personelle und finanzielle Unterstützung von ausserhalb des Kantons angewiesen. Hier kamen die protestantisch-kirchlichen Hilfsvereine («Hülfsvereine») ins Spiel – zunächst derjenige des Kantons Bern, ab 1931 dann derjenige des Kantons Zürich –, welche finanzielle Mittel für die Besoldung von Pfarrpersonen und den Bau kirchlicher Gebäude zur Verfügung stellten. Im Rahmen der schweizweit erhobenen Reformationskollekte wurden 1932 über 132’000 Franken für den Bau einer reformierten Kirche in Stans gesammelt, wozu allein die Zürcher Reformierten 40’000 Franken beisteuerten. Die 1934 eingeweihte Stanser Kirche, die erste reformierte im Kanton, gehört(e) zu den damals überall entstehenden «Diasporakirchen», die Paul Etter im Handbuch der reformierten Schweiz (1962) wie folgt charakterisierte: «[...] es hat sich aus dem Gebot der Sparsamkeit heraus ein eigentlicher Diasporastil entwickelt, Kirchen und Pfarrhäuser und Gemeindesäle möglichst unter einem Dach zusammenzubringen».
Das zu besprechende Büchlein Häuser für eine Minderheit. Die reformierten Kirchen in Nidwalden widmet sich den vier evangelisch-reformierten Gotteshäusern im Kanton Nid¬walden (neben über 80 römisch-katholischen!) aus architektonischhistorischer Sicht. Die Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im Nidwaldner Museum vom Herbst 2022 ist in der Reihe Baukultur in Nidwalden erschienen, die seit 2017 von der Nidwaldner Denkmalpflege herausgegeben wird und «den Blick für die Schönheit und Einzigartigkeit der Baukultur in Nidwalden [...] schärfen» will (3). Das kleinformatige Bändchen mit offener Fadenheftung setzt sich aus einem Vorwort, einer Einleitung von Denkmalpfleger Sebastian Geisseler, vier ungefähr gleich langen Kapiteln über die reformierten Kirchen in Stans (Sebastian Geisseler), Hergiswil (Gerold Kunz), Buochs (Nicole Ineichen) und Stansstad (Gabriela Theiler) sowie einem geschichtlichen Überblick über die evangelisch-reformierte Kirche in Nidwalden seit Ende des 19. Jahrhunderts (Fritz Gloor) zusammen. Die vier Kapitel im Hauptteil umfassen jeweils eine Seite mit tabellarischen Angaben zum Bauwerk, zwei bis drei Textseiten mit einer architekturhistorischen Beschreibung und Einordnung sowie einen Abbildungsteil von je einem Dutzend Seiten, der sowohl aktuelle als auch bauzeitliche Fotos und Pläne enthält.
In seiner Einleitung verweist Sebastian Geisseler auf die für reformierte Kirchenräume (nicht nur) im 20. Jahrhundert charakteristische «Nüchternheit, Einfachheit und Ehrlichkeit», die eine Differenz zum katholischen Kirchenbau markieren, «eine anspruchsvolle Architektur jedoch nicht aus[schliessen]. Im Gegenteil! Die Suche nach der Profanität, aber auch das Erzeugen von Stimmung und Atmosphäre führten zu innovativen architektonischen Entwürfen, zu einer gestalterischen Ungebundenheit, welche die vielfältige reformierte Kirchenlandschaft der Schweiz bis heute prägt. [...] Die Kirchen in Stans (1934), Hergiswil (1948), Buochs (1962) und Stansstad (1980) widerspiegeln die Vielfalt und die Entwicklung des Kirchenbaus in der Schweiz im 20. Jahrhundert auf engstem Raum.» (4).
Tatsächlich nimmt jedes der vier Nidwaldner reformierten Kirchengebäude zeittypische architektonische Impulse auf, wie die nachfolgenden Kapitel in Text und Bild zeigen. So weist die Kirche in Stans des Zürcher Architekten Otto Pfleghard (1869–1958) Einflüsse des Neuen Bauens auf – auch wenn die von Sebastian Geisseler euphemistisch als «Überformungen» (9) bezeichneten Um- und Ausbauten der frühen 1990er Jahre das äussere Erscheinungsbild massgeblich veränderten. Demgegenüber knüpft die Kirche in Hergiswil des Zürcher Architektenpaars Hans (1916–2009) und Annemarie Hubacher-Constam (1921–2012) – «eine der ersten Frauen im Herrenklub der Schweizer Architektur» (NZZ) und später unter anderem Chefarchitektin der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) – eher an Bautraditionen des ländlichen Raums an, lässt mit den faltbaren Trennwänden, der geschlämmten Backsteinfassade, der V-förmigen Stütze des Eingangsbereichs, dem Glockenturm aus Beton und der Umgebungsgestaltung zugleich aber auch moderne Elemente erkennen. Die Kirche in Buochs wiederum hat ein tiefgezogenes, unregelmässig geneigtes Zeltdach, womit der Zürcher Architekt Oskar Bitterli (1919–2012) ein verbreitetes Motiv der damaligen Sakralarchitektur aufnahm. Die Kirche in Stansstad schliesslich ist Teil des vom Luzerner Architekten Walter Rüssli (*1932) entworfenen ökumenischen Kirchgemeindezentrums («Oeki»); dieses entfaltet mit seiner Bezugnahme auf den Baubestand (römischkatholische Kirche und Pfarrhaus) Ensemblewirkung und erhält durch «die Verschränkung von Volumen mit Leerformen, Einbuchtungen und Auswölbungen» innen wie aussen eine plastische Prägung (54).
Abschliessend ordnet Fritz Gloor dieses «ökumenische Pionierprojekt» in Stansstad in den grossen Bogen der religionssoziologischen Entwicklung vom Ende des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein, die «vom Diasporageist zur konfessionellen Indifferenz» führte: «Parallel zur fortschreitenden Säkularisierung hat das entspannte Verhältnis zwischen den Konfessionen in Nidwalden wie nahezu überall dazu geführt, dass die Kirchenzugehörigkeit für den grössten Teil der Bevölkerung keine Rolle mehr spielt. Wie die Kirchen in ökumenischer Solidarität damit umgehen, ist heute ihre entscheidende Herausforderung» (70).
Die vorliegende Publikation greift mit dem schweizerischen reformierten Kirchenbau im 20. Jahrhundert unter Diasporabedingungen ein Thema auf, zu dem es bisher nur wenig Literatur gibt. Das sorgfältig geschriebene und gestaltete Büchlein vermag auf wenigen Seiten einen interessanten Über- und Einblick in die Entwicklungen in Nidwalden zu geben ben. An manchen Stellen wären eine inhaltliche Vertiefung und weiterführende Quellenangaben wünschenswert gewesen. Doch dies kann – und will wohl – diese Publikation(sreihe), die sich an ein breites Publikum richtet, nicht leisten.

Zitierweise:
Zimmer, David: Rezension zu: Denkmalpflege Nidwalden (Hg.): Häuser für eine Minderheit. Die reformierten Kirchen in Nidwalden (Baukultur in Nidwalden [6]), Stans 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 117, 2023, S. 447-449. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00155.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit