G. Kreis: Zur Schundbekämpfung in der Schweiz nach 1945

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Title
Mit und ohne Feuer gegen Jugendgefährdung. Zur Schundbekämpfung in der Schweiz nach 1945


Author(s)
Kreis,Georg
Published
Bern 2022: hep Verlag ag
Extent
171 S.
by
David Neuhold

Papst Paul VI. hatte 1965/1966 den Index der verbotenen Bücher zu Grabe getragen. Grund dafür waren einerseits die Impulse des II. Vatikanums, die nun einem positiven und konstruktiven Umgang mit Kommunikationsmitteln aller Art den Weg bereiteten. Andererseits war die schiere Unüberschaubarkeit der Publikationen und Veröffentlichungen ein Anlass, dieses im 16. Jahrhundert gestartete repressive Unterfangen zu stoppen. Bücher sollten nicht mehr ausgesperrt, also indiziert werden. Die Zeit der ideellen Giftschränke war vorbei. Genau zu dieser Zeit aber, also Mitte der 1960er Jahre, loderten in der Schweiz die letzten Feuer zur Vernichtung von «Schundliteratur». Hauptsächlich Zeitschriften, Comics und Romanheftchen waren betroffen. Jener späte «Befund» rüttelt aus heutiger Sicht auf, er macht hellhörig. Georg Kreis zeigt in seinem exzellent betitelten Buch auf, dass es sich um Ausläufer einer (Un-)Kultur an der Zeitenwende der 1960er Jahre als «zweiter Reformation» (Hugh McLeod) mit weitreichenden kulturellen Akzentverschiebungen handelte. Stehen wir gerade in unserer Zeit und mit dem Ukrainekrieg einem erneuten Wandel im Bereich der Informationsgesellschaft gegenüber? Neue Rauchwolken steigen auf.
Das hochreflexive Buch eines verdienten und vielfach geehrten Autors und Professors soll hier besprochen werden – und zwar mit einem kirchenhistorischen Brillenglas. Die vielfältige kirchliche Beteiligung am Geschehen, aber auch das «konservative» (bewahrende und antirevolutionäre) Kritikpotential sind interessante Facetten in der Schundbekämpfung. Diese spielte sich mehrheitlich in der Ost- und Nordschweiz ab, dort setzt Kreis auch seine geografisch-historiografischen Schwerpunkte. Freiburg spielt so im Buch etwa keine grosse «Rolle» (vgl. aber 61 mit einem «Föderalismusplädoyer» in Sachen «Schund», die Kantone seien dafür zuständig). Vom sehr Konkreten ausgehend kommt Kreis zu generellen Beobachtungen. Wir haben es also mit einem induktiven, exemplarischen Ansatz und Zugriff zu tun. Und dieser ist sehr gelungen, thematisch fokussiert und angenehm zu rezipieren.
Nach einer Einführung mit packenden und etwas verstörenden Fakten, nämlich den «Brandaktionen von 1965» (17–36), folgen im zweiten Kapitel von Kreis so bezeichnete «Verlaufsspuren» (37–80), die zeitweise etwas erratisch und schmal bearbeitet daherkommen (insbesondere 49–79). Es schliesst sich dem ein systematisch vertieftes, analytisch wertvolles Hauptkapitel an, welches den «Elemente[n] des Schunddiskurses» nachgeht (81–110). Darauf folgen «Reaktionen auf die Aktionen von 1965» (111–126), historiografische «Rückschlüsse» auf die frühen 1960er Jahre allgemein (127–155) und sodann, zum Abschluss, als eine Art Forschungsstand: «Arbeiten zur Schundproblematik» (156–158). Letztere hätten vielleicht an den Anfang geschoben werden können. Insgesamt hätte es der Publikation vielleicht gutgetan, auf ein schmaleres Format kondensiert worden zu sein, dann aber wäre der Buchcharakter etwas verlustig gegangen. An dieser Stelle soll jedoch nicht im Geringsten ein neuer Scheiterhaufen errichtet werden.
Gehen wir inhaltlich stärker in die Tiefe: Es lohnt sich etwa eine fokussierte Betrachtung des Kleinkapitels «Rechts und Links» (90–93). Denn darin zeigt Kreis, dass das Anliegen zur Schundbekämpfung ideologie- und parteiübergreifend angepackt wurde, gerade auch nach 1945. Die Seitenblicke auf bzw. hiebe gegen Bundesrat Philipp Etter (1891–1977) sind aber etwas zu zahlreich und zu wenig kontextualisiert. Diese entsprechen wohl den Erwartungen der Leserschaft, wie Kreis sie voraussetzt und wie sie zum Zeitpunkt der Bucherstellung (und somit zum Zeitpunkt dieser Rezension) vermutlich tatsächlich vorhanden sind: Ein katholisch-konservatives «Milieu» wird nachgezeichnet, von dem man einen kulturpessimistisch angehauchten Kampf gegen den Schund historiografisch wohlweislich erwarten kann und will! Dass Liberale und Sozialdemokraten auch im Kampfboot waren, wird zwar ausgleichend festgehalten, zugleich kommen aber prominent die je mächtigeren Gegenstimmen in diesen anderen «Milieus» zu Wort: Damit wird ein Bild gezeichnet, eine normative Positionierung getätigt. Das ist freilich legitim. Kreis spielt mit offenen Karten. Dass er aber die «Eiterbeulen»-Aussage von Bundesrat Etter (im September 1956) in Bezug auf die vorgebliche «Schundüberflutung» (68, 77, 86, 87) mehrmals heranzieht, ist stark plakativ. Etter hat sich letztlich im Kampf gegen den Schund ja nicht wirklich «verdient» gemacht, sondern diese Politik eher verschleppt. Thomas Zaugg konnte in seiner Etter-Biografie zeigen, dass das auch in anderen Zusammenhängen der Fall war. Zudem weist Albert Gasser gerade in dieser Nummer der Zeitschrift darauf hin, dass die Bezeichnung «katholisch-konservativ» (vgl. z.B. 136) als starke Fremdbezeichnung auch tendenziös verstanden werden kann und muss, weil damit etwa eine «k&k»-Assoziation getätigt wurde.
Auf jeden Fall ist es so, dass die Schundbekämpfung ein überparteiliches, aus mehreren Töpfen (z.B. dem «Volkswohl») schöpfendes Unterfangen war und unter mehrfacher Hinsicht zu Debatte stand: Welche ist die Rolle des Bundes im Kampf gegen den Schund? Hier überlagerten sich föderalistische, subsidiäre Postulate mit etatistischen Bemühungen. Antikommunistische, protektionistische und patriotische Schattierungen (137–144) spielten ebenso eine Rolle wie generationsspezifische (133), juristisch-strafrechtliche, journalistische, verlegerische sowie ganz grundsätzliche Fragen: Wer hätte es vermocht, den «Schund» begrifflich festzulegen? 1954 wurden bei einer «Schundbekämpfungsaktion» auch Alte Testamente und griechischen Heldensagen abgeliefert (52). Das spricht Bände! Dazu gesellt sich, dass es verschiedene Strategien der Bekämpfung gab. Das Spektrum reichte von repressiven Verbotsbestrebungen bis hin dazu, das Positive, die «gute» Lektüre oder die «gute» Bibliothek in der Funktion eines «Impfstoffes» (154), zu fördern! Hier zeigen sich interessante und lehrreiche Ab- und Eingrenzungsphänomene und politische und kulturelle Strategien. Kreis seziert diese tiefschürfend und überzeugend. Als «Kanonbildungsprozesse» scheinen diese Vorgänge «überzeitlichen Charakter» zu haben.
Dass die Kirchen in den 1950er und 1960er Jahren eine Art moralisches Wächteramt innehatten respektive ihnen dieses zugeschrieben wurde (z. B. 52, 83), wird im Buch ebenso deutlich wie auch der «Beitrag» von einzelnen Kirchenfunktionären und Pfarrpersonen an diesem Unterfangen. Pfr. Karl Zimmermann sah die «Seele der Jugend» und das «Mark des Volkes» bedroht (100). Nichtsdestotrotz fanden sich religiöse Akteure auch auf der anderen Seite bzw. «an der Grenze» der vermeintlichen Schund-Literatur: Pfr. Klaus Schädelin (1918–1987) hatte 1955 den Roman «Mein Name ist Eugen» verfasst (12), der damals noch ambivalenter als heute, weil 2004 sogar verfilmt, aufgenommen wurde… Er wurde quasi als Schundproduzent erachtet.
Den Rezensenten hätte noch interessiert, wie einerseits die «offizielle hierarchische» katholische Kirche, sprich die Bischöfe, mit der «Schund»-Frage umgegangen ist, aber andererseits auch katholische intellektuelle Exponenten aus dem universitären Umfeld. In der Schweizerischen Kirchenzeitung gab es ja stark anklagende Worte, dass zu wenig in diesem Kampfe getan werde (63). Dazu wäre die longuedurée-Frage womöglich ergiebig, welche ikonoklastisch-bilderstürmerischen Momente noch in den 1960er Jahren bei diesen Verbrennungsaktionen zum Vorschein kamen. Denn es geht wie bei den betroffenen Comics gerade um eine Bilderablehnung und -vernichtung, die in der reformatorischen Schweiz eine gewisse Tradition hat (vgl. dazu 113).
Vorliegendes Buch ist eine Bereicherung, weil es Diskurse und Sematiken (Kampfrhetorik, Reinheitsdiskurse und Medizinmetaphorik wie «Beulen») im beobachteten Zeitraum analytisch aufschlüsselt und dabei, in humanistischer Tradition, hochreflexiv in die Tiefe geht. «Der Schunddiskurs erging sich in Wiederholungen» (85). Das repetitive, appellative und letztlich unbestimmte Element zeichnete den Kampf gegen das Dual «Schund und Schmutz» aus. Auch psychologische Deutungen Dritter («Faszination des Schlechten und Bösen») fehlen beim Autor nicht, obgleich sie Kreis postwendend als «psychologisierendes Denken» beiseiteschiebt (95). Da hätte man dann doch gerne etwas mehr darüber gelesen.
Dass es bei der Schundbekämpfung zentral um die «Energien» der Jugend ging und ihren expressiven Ausdruck, wird in dem das Buch begleitenden Bilderprogramm exzellent ersichtlich. Mit diesem Jugend-Konnex ist mit dem Hep-Verlag in Bern ein mehr als passender Ort der Durcklegung gewählt worden. Dem inspirierenden Band ist weite Verbreitung zu wünschen und dass er ein Anstoss für weitere Forschungen, gerade auch im kirchenhistorischen Bereich, sein mag.

Zitierweise:
Neuhold, David: Rezension zu: Kreis,Georg: Mit und ohne Feuer gegen Jugendgefährdung. Zur Schundbekämpfung in der Schweiz nach 1945, Bern 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 117, 2023, S. 442-446. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00155.

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