Cover
Titel
Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit


Autor(en)
Reinhardt, Volker
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
€ 32,00
von
Andreas Burri

Die neue Biografie zu Voltaire gewinnt unter anderem darin ihren enormen Umfang – die nahezu 600 Seiten sind klein gedruckt –, weil sie als eine ideengeschichtliche Studie gründlich auf die zahlreichen Schriften Voltaires eingeht. Als Grundsatz formuliert sie, dass es in Voltaires literarischer Tätigkeit nicht darum gehe, ein System zu errichten, sondern alle Systeme, die das Dasein auf einen Nenner bringen wollen, zu hinterfragen. Diese Skepsis sei aber keine reine Privation, sondern von produktiver Substantialität: als einzige Beständigkeit im Wechsel der Zeiten bedeute sie die Freiheit des Denkens, der Vernunft. Aus diesem Grundsatz heraus erklärt sich der Titel des Buches und erzählt es uns die Stationen von Voltaires Leben und Schaffen: seine Religionskritik, sein Geschichtswerk, sein soziopolitisches Engagement wie aber auch seine denkerischen Fehler und persönlichen Probleme (vgl. 13–16, 18, 169, 184f., 217–220, 574f.).
Es empfiehlt sich, mit seiner Religionskritik zu beginnen, da diese strukturell seinen anderen Ausdrücken zugrunde liegt. Reinhardt schildert fortlaufend den kulturhistorischen Hintergrund, vor dem sich Voltaires Denken herausbildet: Das neuzeitliche Frankreich ist gezeichnet von verbal wie physisch brutal ausgefochtenen Religionskämpfen, die sich nicht nur in Auseinandersetzung mit dem Calvinismus und dem Sozinianismus, sondern auch «binnenkatholisch» zutrugen, wie jesuitische, gallikanische und jansenistische Schulen Debatte über Debatte um christliche Dog-men betreffs Freiheit, Gnade, Prädestination und Eschatologie führten. Nach den Religionskriegen des 16. Jh. und den Kampfhandlungen des 17. Jh. wurden diese Debatten auch im 18. Jh. nicht nur verbal geführt: im fluiden Wechselverhältnis der Kräfte von Kirche, Parlament und Krone flackerten Akte grausamer Repressionen auf, um freidenkende Kritik an Religion und Staat durch willkürliche Terrorjustiz zu kontrollieren bzw. eigene konfessionelle Bedürfnisse durchzusetzen. Aus dieser Konstellation heraus entstand in Frankreich unter Einfluss englischer Philosophie die Aufklärung, die Voltaire wie wenige vor, neben und nach ihm verkörperte. Seine Ausbildung, auch in Sachen Theater, erhielt er am von Jesuiten geführten Collège Louis-le-Grand. Voltaires Religions- bzw. Christentumskritik zeichnete sich früh ab und blieb, je nach Adresse unterschiedlich formuliert, im Grunde konstant: Ein dogmenloser Deismus als Glaube an einen Schöpfergott der Vernunft, der auf zwei Pfeilern basiert, die Voltaire beide namentlich bei Newton findet: einerseits auf dem kosmologischen, physikotheologi schen bzw. teleologischen Gottesbeweis, andererseits auf der Evidenz, dass der Geist kategorisch nicht Materie sein könne. Die Menschen sind durch Natur und Mensch grausamen Schlägen ausgesetzt, die sie nicht verstehen und dadurch durch Irrationalismen erklären, die Voltaire als Aberglauben auffasst. Damit meint er im Grunde jene religiösen Denk- und Ausdrucksweisen, die wir im Zuge der deutschen Spätaufklärung «positive Religion» zu nennen gewohnt sind. Das grundsätzliche Problem sieht Voltaire darin, dass sich das Christentum von dem einen einzigen Anliegen entfernt hat, das eine Religion legitimerweise haben kann: Toleranz durch epistemologische Demut und Solidarität mit den Leidenden dieser Erde. Es verbietet in seiner Lebensfeindlichkeit den Trost des Hedonismus und schürt in Symbiose mit den politisch Herrschenden aus Machtinteresse durch Fälschungen und Lügen eschatologische Ängste, um die Menschen zu versklaven; unlogische Dogmen, die aus der historisch-kritisch unzuverlässigen Quelle der Bibel konstruiert werden, führen zu Kriegen aufgrund kleinlicher Bestimmungen, die fanatisch zu Universalen erklärt werden. Während es darum ginge, angesichts des Leides dieser Erde eine Einheit der Hilfe und des Mitleides zu institutionalisieren, stiftet die so verkommene Religion Zwietracht, worüber hinaus die fanatischen, machthungrigen Menschen auch noch in moralisch abstoßender Bigotterie leben: die Kirche predigt Armut und schwelgt in Reichtum, sie predigt Frieden und fördert Krieg, sie predigt Enthaltsamkeit und lebt Ausschweifung, sie predigt Demut und ist weltliche Despotin. Insofern Voltaires Religionskritik auf den soziopolitischen Rahmen seiner Gegenwart zielt, rückt hier natürlich das Christentum in den Fokus; er meint aber auch andere Religionen in seinem Bildungshorizont. Voltaires Schriften kämpfen darum, dieses Unrecht aufzuheben und die Menschheit in Freiheit durch Vernunft zu führen. Ton und Kompromisse können dabei, wie gesagt, je nach Befinden und Adresse ändern: mal kommt das Christentum an sich dran, mal einzelne Dogmen, mal einzelne Teile seiner Geschichte und Tradition, mal die Bibel, mal einzelne Personen. Das Niveau kann tief und hoch sein, und man läuft leicht Gefahr, sich auf ein Detail zu versteifen. Daher zeichnet diese Biografie aus, dass Reinhardt stets wieder bemüht ist, zu den Grundsätzen zurückzukehren: Fanatismus führt zu Krieg, Krieg führt zu Leid. Religion muss aber dazu da sein, das Leid zu lindern: «Zum Aberglauben zählt alles, was über den Glauben an einen Gott hinausgeht, der den Menschen zu Frieden, Freundschaft und Fortschritt geschaffen hat» (333). Dafür kämpft Voltaire sein ganzes Leben lang (vgl. 27, 29, 33, 38, 61, 63, 82–84, 91, 99–102, 111, 116, 134f., 137, 140, 180–182, 184–188, 191, 193, 201–204, 210–215, 217–220, 226–229, 243–250, 270f., 287f., 329–336, 362, 382f., 386f., 392–394, 411f., 419f., 422, 424–427, 435–439, 447–454, 457–461, 464–468, 470–475, 481, 489–492, 497–500, 508–515, 517f., 520–523, 527, 544–546, 552–555, 559f., 568–575).
Wir haben zu Beginn bereits angesprochen und sehen hier noch einmal: es geht Voltaire nicht um Zertrümmern um des Zertrümmerns willen, sondern um den Aufbau von Positivem: Fortschritt, der konkretem Leid abhilft. Nicht zuletzt damit verbunden ist im Zuge der Aufklärung nun eine weitere «Positivität» entstanden, bei der Voltaire als eine Grund- und Schlüsselfigur vor uns steht: die Kulturgeschichte. Die Biografie setzt hier einen ihrer Schwerpunkte. Bereits Voltaires Religionskritik ist ja grundlegend an einer historischen Fragestellung ausgerichtet: Wie konnte sich eine dermaßen kontraproduktive und irrationale Religion so tief in der Gesellschaft und in den Herzen wie Köpfen ihrer Individuen etablieren? Wie gesagt betrachtet Voltaire gerade dies als Grund von historischen Fehlentwicklungen wie Krieg und Rückständigkeit. Auf diese Art und Weise den Blick in die Vergangenheit zu richten, ist auch eine selbstreflexive Frage, welche die Missstände der eigenen Kultur an anderen Kulturen der Vergangenheit und aus anderen Erdteilen misst. Eine solche kulturhistorische Frage leitet Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756), dem 1769 die Philosophie de l’Histoire (1765) als Einleitung vorangestellt wird. Es geht in der Kulturgeschichte darum, die Identität einer Epoche in ihrer gesamten gesellschaftlichhistorischen Erscheinung zu erfassen. Angesichts der Überfülle an Phänomenen, kann die Geschichte damit nie auf einen Begriff gebracht werden; sie muss stets wieder neu geschrieben werden, schon nur darum, weil sich das Anliegen der Gegenwart ständig verändert. Insofern ist die Kulturgeschichte Ausdruck von Voltaires Forderung nach einem sich ständig neu ausrichtenden Denken und damit der Aufklärung. Die Aufklärung hat sich in ihrem Selbstverständnis als Fortschritt in der Geschichte verstanden, was sich in Voltaires historischem Werk zeigt, das Reinhardt als Grundstein des Faches Kulturgeschichte ansieht: Le Siècle de Louis XIV (1751). Bereits Voltaires erstes großes Werk bereitet dieses Schlüsselwerk vor, als es aus dem konkreten Lauf der Geschichte das eigene religiöse und sozialpolitische Anliegen ableitet und damit historische Identität konstruiert: La Henriade (1723) besingt als Nationalepos Henri IV als König von Frankreich, der durch seine Konversion zum katholischen Glauben die Religionskriege beendet und durch umfassende Toleranz abzusichern versucht; der erste Bourbone «leitet damit eine Friedens- und Wiederaufbauzeit ein, die den Aufstieg Frankreichs zur kulturellen und politischen Vormacht Europas unter Ludwig XIV. anbahnt.» (74). Louis XIV war bestrebt, die freien Künste um sich herum zu versammeln, und es ereignete sich unter einem Racine, dass das Französische der kulturelle Vorreiter ganz Europas wurde. Im Le Siècle de Louis XIV geht es aber nicht um den Sonnenkönig, sondern um die Sonne: in dieser Epoche hat sich in Frankreich die Aufklärung der Vernunft historisch manifestiert. Voltaires zentrales kulturhistorisches Fazit in seinen Geschichtswerken ist damit, dass sich das freie Denken seinen Weg zur Aufklärung bahnt, mit oder ohne Unterstützung der irdischen Mächte. Das zeigt sich in diesem Zeitalter darin, dass Louis XIV nebst seinem zunehmenden katholischen Fanatismus auch als Kriegstreiber moralisch völlig versagt hat. Doch was geblieben ist, sind die Künste der Freiheit (vgl. 38, 44, 53, 71–74, 78, 81–84, 99–102, 130, 132f., 141, 156, 158, 163, 169, 180–182, 205, 209, 213–215, 217–220, 243–248, 250, 270, 273, 279, 311, 336–348, 357–359, 364f., 384–396, 421, 435f., 470–475, 490f., 497–500, 514f., 519–523, 552–555, 560f., 582).
Auch bei der historischen Seite von Voltaires Werk sind wir damit auf denselben Grund gestoßen wie bei seiner Religionskritik: es geht darum, Leid zu verhindern, was in erster Linie bedeutet: Krieg zu verhindern. Reinhardt kommt immer wieder auf dieses Anliegen Voltaires zurück, der, wiewohl er sich hier und da der Faszination für martialische Adels¬tugend eines Friedrich des Großen nicht entziehen konnte, stets wieder seine Verachtung vor dem Krieg ausdrückte, und dies auch immer wieder seinem preußischen Brieffreund entgegenschleuderte. Es begegnet uns darüber hinaus ein Voltaire, der Würde und Rechte von Tieren, anderen Kulturen und die Gleichstellung der Frauen einfordert; ein Voltaire, der gegen Folter und Todesstrafe schreibt und journalistische Kämpfe gegen die Terrorjustiz führt, der hugenottische Familien wie die Calas oder die Sirven zum Opfer fielen, womit er vorwegnimmt, was 1789 zur Wiege unserer Rechtsgemeinschaft geworden ist. «Voltaire hatte auf der ganzen Linie gesiegt und mit ihm zum ersten Mal die Vierte Gewalt, die öffentliche Meinung im Geiste der Aufklärung» (446). Es geht Voltaire um Demut, damit Raum für Leben in Frieden und Gemeinschaft entsteht; es geht Voltaire darum, Leid einzudämmen (vgl. 79, 184f., 205, 217–220, 243–248, 255f., 262, 274–276, 288–290, 292, 298, 341–348, 387–392, 394–396, 398f., 401, 411–414, 435–444, 447–452, 468, 475–478, 483, 494–500, 509f., 515, 518f., 520–523, 526–529, 531f., 544–546, 555, 563).
Dass er es mit diesem Anliegen wirklich ernst meinte, sehen wir, wenn uns die Biografie darlegt, wie er mit der Theodizee rang. Dass Leid der Welt wühlte ihn immens auf und führte ihn wiederholt in eine tiefe Vertrauens- und Glaubenskrise an die Güte des Schöpfergottes. Weshalb gibt es solch immenses Leid, wenn Gott gut ist? Ist dieses Leid von Gott gewollt? Die Frage gewinnt nach 1755, als ein heftiges Erdbeben die Menschen von Lissabon verschüttete, in Voltaires Schreiben – so im Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) – eine Intensität, die nicht an der Aufrichtigkeit des methodischen Spötters zweifeln lassen: Voltaire «fühlt sich ein in die Schrecken, Qualen und die Todesangst der Verschütteten, hat grenzenloses Mitleid mit den Opfern, abgrundtiefe Verachtung für alle Deutungen, die den Leidtragenden der Katastrophe die Schuld in die Schuhe schieben, und Hohn und Spott für alle übrigen schönfärbenden Erklärungen. Er empört sich über eine Natur, die den Menschen so fatale Streiche spielt, entsetzt sich wütend über eine Welt, in der ein solches Desaster geschehen kann, und zweifelt an einem Schöpfer, der das alles zulässt oder sogar anordnet. [...] War die bislang so plausible Annahme, dass die Welt ihre Entstehung der Schöpfung durch einen gütigen, den Menschen zu Fortschritt und Humanität anleitenden Gott verdankte, im Licht dieses Unglücks noch aufrechtzuerhalten?» (373f).
Hiermit begegnen wir aber auch wieder der Stärke von Voltaires Denken, die Reinhardt als Leitsatz für seine Biografie gewählt hat: «Dass er diese Absurdität der Existenz nicht wie andere Philosophen, gerade auch der Aufklärung, einen ‹vernünftigen› Ordnungsentwurf entgegensetzt hat, sondern allen Systementwürfen gegenüber skeptisch blieb, macht seine Größe und bleibende Aktualität aus» (18). In diesen Leitsatz fällt bei diesem Thema auch einer der bekanntesten Romane Voltaires: Candide ou l’optimisme (1759), mit dem er sich gegen die Philosophien und Theologien wendet, die das konkrete Leid als Teil eines übergeordneten Guten runterspielen wollen. «Nicht nur die Geistlichen aller Couleur, die den Willen Gottes genauestens zu kennen behaupteten, sondern auch diejenigen, die in geschützter Behaustheit behaglich darüber debattierten, warum es die einen so hart getroffen hatte und die anderen verschont geblieben waren, luden in Voltaires Augen moralische Schuld auf sich, da sie ebenfalls die Opfer zu Tätern machten. Das galt in besonderem Maße für die selbsternannten Weltweisen, die deklarierten, der Untergang des Einzelnen sei in Relation zum Weltganzen ganz unbedeutend» (375).
Mit der Frage nach dem Leid befinden wir uns auch wieder tief im ideenhistorischen Kontext der französischen Frühen Neuzeit: der Frage nach Freiheit, Gnade, Prädestination und Eschatologie. Die Menschen in Voltaires Zeit wurden geplagt von Höllenfantasien, was ja nicht überrascht: Wenn diese Welt solchen Horror beherbergt, was erwartet uns dann in der Nächsten? Dazu kam eine kirchliche Struktur, welche diese Vorstellungen auch noch nährte, bis hin zu Extremen des Jansenismus und Calvinismus, die eine doppelte Prädestination lehrten und jegliches Fragen nach dem Übel für ein religiöses Unrecht des Menschen erklärten. Wer kann an einen solchen Gott allen Ernstes glauben?! Dass sich hier kein Trost findet, liegt auf der Hand; erst recht kann ein aufrichtiger und nüchterner Denker wie Voltaire hier nicht mitgehen. Für ihn sind solche Gedanken Ausdruck einer menschenverachtenden Religion. Reinhardt erzählt des Öfteren, wie Voltaire angesichts des Leides wiederholt an der Existenz Gottes zweifelt, weil er sich in dieser Krise, verständlicherweise, nur dorthin zu flüchten weiß, wo er stark ist: «Der Mechanismus ist stets derselbe: Virtuos beherrschte Sprache sublimiert potenziell zerstörerische Emotionen zu kühl abwägender Rationalität» (18). Doch kann diese Rationalität die Frage unde malum? und damit die Stunden der Verzweiflung nicht überwinden: «Der reine Deismus, den er als Heilmittel vorschlug, war für verunsicherte Seelen kein hinreichender Ersatz, denn er war keine Religion» (102). Voltaire konnte diese Religion nicht formulieren, und flüchtete sich in die Vernunft als Skepsis und Spott; in die Arbeit als Ablenkung. Doch ist auch der liebe Gott, der uns ein Leben nach dem Tod in erlösender Gnade schenkt, ein Glaube Voltaires, dem ich in dieser Biografie stets wieder begegnet bin, auch wenn Voltaire die Worte nicht gefunden hat, auf jenen lieben Gott zu zeigen, seine Taten der Menschenliebe haben es (vgl. 18, 59, 61, 99–102, 128f., 184–188, 213–215, 217–220, 226–229, 253, 288–290, 306f., 330f., 372–381, 386f., 394–396, 407–414, 425–427, 435, 447–452, 487–489, 500, 508–511, 513, 516, 518, 520–523, 542–544, 552–555, 559f.).
Die Frage nach dem Leid angesichts des Erdbebens von Lissabon ist einer der zentralen Streitpunkte, die Voltaire mit Rousseau führte; «einen intellektuellen Gipfelpunkt im Zeitalter der Aufklärung» (378). Es ist ein Streit, in dem Voltaire leider intellektuell wie moralisch versagt hat. Reinhardt bezeugt Professionalität, wenn er hier an Voltaire klare Kritik äußert und nicht, wie man es von anderen Studien kennt, in Voltaires banale Verhöhnung gegen Rousseau einstimmt. Man kann diese oberflächlich auch leicht anstimmen, weil Rousseau ein sehr tiefer, damit aber paradoxer Denker ist. Diese Komplexität kann hier im Rahmen einer Rezension nur gestreift werden, was aber genügt, um Interessierten an diesem Buch zu zeigen, dass Reinhardts Deutung des Voltaire-Rousseau-Streites sehr solide ist: Rousseau geht es um den natürlichen Menschen, was heißt: den vom Zwang der Gesellschaft befreiten Menschen. Der gesellschaftliche Zwang drückt sich in fundamentalen Verzerrungen des Charakters des Individuums aus: so Eitelkeit und Gier, die beide den Menschen knechten, da sie ihn in Abhängigkeit führen, was seiner Würde widerspricht. Rousseau verortet das Leid der Menschen auf der Welt alleine in die Gesellschaft. So kann sich Rousseau im Streit um das Theater in Genf auf die Seite der calvinistischen Tradition der Stadt stellen, im Theater etwas Schädliches zu sehen, weil für Rousseau die Schauspielerei als Verstellung die Wahrhaftigkeit des Individuums an die ästhetischen Bedürfnisse des Publikums verkaufe; eine Meinung, die natürlich einem Theaterautor wie Voltaire, der mit seinen Stücken moralisch erziehen will, grundsätzlich entgegenlaufen muss. Hier ist denn nach Reinhardt auch der springende Punkt: Für Rousseau stellt sich das Problem des Übels nicht in der Radikalität, wie es Voltaire plagt. Das Übel der Erde erschüttert Rousseaus Vertrauen auf die Natur und die Güte Gottes nicht; nach Rousseau müsse und könne man es stoisch ertragen. So kritisiert er, dass Voltaire mit seinem Skeptizismus und Pessimums nicht dazu beitrage, dass Übel zu ertragen, sondern es auch noch verstärke. Vielmehr solle man aber Mut und Zuversicht zusprechen, um das Vertrauen an den lieben Gott zu stärken; Gott habe schon seine Gründe, uns noch leiden zu lassen, aber diese dienen nur unserem ganzen Guten. Freilich wollte ja auch Voltaire Mut zusprechen, aber nicht auf Kosten dessen, was er als Selbstbetrug ansah, denn dieser führe, wie gesehen, zu Fanatismus und Intoleranz als Quelle von Krieg und damit Leid. Namentlich Rousseaus Vertrauen, dass das Ganze gut sei, musste Voltaire verständlicherweise Rot sehen lassen, weil er hier das konkrete Leid des Individuums an ein Abstraktum ausgespielt sah. Dass Rousseaus Philosophie aber von einem tiefgreifenden Glauben an und einem leidenschaftlichen Kampf für ebendieses Individuum getragen ist, ist einer jener Tiefgänge, die Voltaire leider nicht sehen konnte. So erscheint ihm Rousseau als ein Spinner, dessen Zivilisationskritik die Fundamente seines Denkens angreift, das, wie wir gesehen haben, seiner Religionskritik und Geschichtsphilosophie zugrunde liegt und darin besteht, dass die Aufklärung den Menschen zur zivilisierten Gesellschaft fern von Leid führen soll. Gerade hier, an der anspruchsvollen Auseinandersetzung mit Rousseau, verkrampft sich Voltaires Denken entgegen seiner eigentlichen Stärke nun aber selbst zum System. Dies kombiniert mit den Fakten, dass Rousseau einer der wenigen, wenn nicht der einzige zeitgenössischen Schriftsteller war, der es an Sprachgewalt mit Voltaire aufnehmen konnte, und dazu noch entsprechend einen ebenbürtigen Publikumserfolg aufwies, sieht Reinhardt als Grund, weshalb Rousseaus Erscheinen auf der Bühne Voltaire empfindlich treffen musste: «Für Voltaire war diese antizivilisatorische Utopie eine Herausforderung ohnegleichen und ihr Erfolg beim Publikum eine persönliche Kränkung» (432). Voltaires Reaktion besteht in einer literarischen Hetzkampagne gegen Rousseau, die moralisch verstört: Er spricht Rousseau auf Grundlage eines schändlichen Standesdünkels Intelligenz an sich ab, ermutigt seine eigenen Verfolger – Kirche und Staat – zur Repression gegen ihn, und schmettert ihm persönliche, primitive Sprüche unter der Gürtellinie entgegen (vgl. 226–229, 364, 367–370, 378–382, 430–435, 454–456, 461–463, 486f., 490, 493f., 500, 528f., 533f., 555, 559f.).
Es ist meiner Meinung nach besonders schade, dass sich diese beiden Denker damals noch nicht finden konnten, hätte doch Voltaires Sensibilität für das Leid des konkreten Individuums und Rousseaus starker Glaube an die Prädestination hin zum Guten ebendieser Individuen der Aufklärung eine theologische Kraft gegeben, die noch mehr Licht in die Sache gebracht hätte. Aber es gibt ja noch die Nachwelt. Schließen können wir mit einem großen Lob an diese neue Voltaire-Biografie: Es ist eine nüchterne, sachliche und doch an der Person und dem Denken Voltaires anteilnehmende Darstellung, sowie eine tiefgreifende Analyse der Ideengeschichte der französischen Neuzeit. Man lernt hier echt viel. Diesem Lernen werden dabei keine sprachlichen Hürden in den Weg gelegt, da es Reinhardt ganz im französischen Sinne versteht, clarté zu denken und zu schreiben. Ebenso im französischen bzw. voltairschen Sinne zeichnet sich diese Studie aus, frei und kritisch zu denken, auch von ihrem Gegenstand. Wiederholt wird uns ironisch, aber niemals böswillig, ein Voltaire präsentiert, der zum Schmunzeln Anlass gibt; was uns freilich dessen nervösen Fehdehandschuh eingehandelt hätte.

Zitierweise:
Burri, Andreas: Rezension zu: Reinhardt, Volker: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. Eine Biographie, München 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 117, 2023, S. 416-421. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00155.

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